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Der Handschuh

25. November 2016

Nach der Vorlesung über Tierethik fahre ich in der Tram zur Grenze. Ich bin müde. Die schmale Gestalt neben mir erhebt sich. Langer Mantel, wehendes Haar, anmutig. Beim Aussteigen fällt ein Handschuh auf den Boden. Ich will ihr zurufen: „Ihr Handschuh!“, - tue es aber nicht. Irgendetwas hält mich zurück.

Der Handschuh liegt auf dem Teil der Tram, der sich in den Kurven dreht. Er scheint sich zu bewegen. Eine Illusion. Die Tram bewegt sich, nicht der Handschuh. Er liegt still und einsam. Ihm fehlt sein Kumpel. Der ist noch bei der Frau und wärmt ihre eine Hand. Welche? Ich gucke genau hin. Auf dem Tramboden liegt der linke. Dunkelblau. Aus Leder. Leder sollte man nicht mehr tragen. Ich habe auch Lederhandschuhe. Trage sie auch, obwohl ich Tierethik studiere. Aber ich kaufe keine neuen. Ich trage die alten aus.

Der Handschuh tut mir leid. Allein gelassen! Auf dem Boden der Tram. Der Daumen ist nicht zu sehen. Bauchlage. Sollte ich ihn aufheben? Und auf den leeren Sitz legen? Zu spät. Eine Frau setzt sich darauf. Sie gibt dem Handschuh mit dem Fuß einen Stoß. Er bewegt sich nach vorne. Jetzt hat sie Platz für ihre Einkaufstaschen. Unverschämte Person. Kickt den Handschuh einfach weg.

Ja gut, der Handschuh ist nicht empfindungsfähig. Er hat keine Rechte, keine negativen und schon gar keine positiven. Man kann ihn einfach wegkicken. Oder hat man etwa indirekte Pflichten einem Handschuh gegenüber? Sollte ich ihn zum Fundbüro bringen, damit die Besitzerin zu ihrem Recht kommt? Aber wo finde ich das Fundbüro? Und ist es nicht sowieso geschlossen, wie die Poststelle? Sicher gibt es ein virtuelles Fundbüro im Internet.

Bei der nächsten Haltestelle entdeckt eine Dame den Handschuh bei Aussteigen. Die erste, die von ihm Notiz nimmt. Sie fragt die Frau, die den Handschuh weg gekickt hatte, ob es ihrer sei. Diese lächelt. Nein. Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so grausam zu ihm war?

Wenn der Handschuh Glück hat, bleibt er unversehrt bis zur Endstation liegen. Dann werde ich ihn zum Tramführer bringen. Wenigstens das kann ich für ihn tun. An der Endstation gehe ich nach vorne zur Führerkabine. Ich klopfe an die Glaswand. Der Tramführer lächelt mich an und öffnet das Fenster. Ich übergebe ihm den Handschuh. Er bedankt sich. Ein gut aussehender Tramführer! Ich steige aus. Für mich ist die Welt wieder in Ordnung. Ich hoffe, für den Handschuh auch.

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