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Ich bin eine Fledermaus

23. Mai 2015

...Es schien hektisch zu und her zu gehen. Ein angenehmer Essensgeruch durchströmte das kleine Hüsli. Anna blieb ungerührt, die Beine zur "Kerze" in die Höhe gestemmt. Den Kopfstand schaffte sie leider nicht, den Handstand noch weniger. Sie befürchtete die Einrichtung zu gefährden, sich die Knochen anzuschlagen oder das ganze Büchergestell umzuschmeißen. Ihr Arbeitszimmer war klein, mit Dachschrägen. Das vereinfachte das Experiment. Der Raum glich einem Dachboden - mit weniger Staub - etwas weniger. Gewöhnlich fiel das Licht  durch die beiden Dachfenster. Die Jalousien fehlten. Zum Glück besaß Anna noch die schwarzen Tücher, die beim Ausstatten der Theaterbühne  an der Schule stets gute Dienste geleistet hatten. Damit hatte sie die beiden Dachfenster verdunkelt und die Ränder des Stoffes mit Tesa -Krepp an der Wand festgeklebt.

"Essen ist fertig"!! Diesmal klang Freds Stimme ungeduldig. Anna versuchte ihre Arme nach beiden Seiten weit  auszustrecken. Ihre Beine gerieten ohne Stütze ins Schwanken. Sie schaffte es mit größter Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten. Aber da fehlte doch etwas! Richtig die weiten Ärmel. Kürzlich hatte sie sich, trotz heftiger Proteste ihrer beiden Schwestern, einen Mantel gekauft, der weit geschnitten und erst noch schwarz war.  Er wäre genau das richtige Kleidungsstück für das Experiment. Anne rollte langsam ihren Rücken ab, kam in aufrechter Haltung zu sitzen und überlegte, wo der Mantel sein könnte. Sie musste nicht lange nachdenken, der Mantel hing am Kleiderständer. Sie zog ihn an, hievte ihre Beine wieder in die Höhe, streckte die Arme zur Seite und - sah nichts mehr. Der Stoff des Mantels bedeckte Kopf und Oberkörper. Umso besser. Sie brauchte nichts zu sehen, hören tat sie immer noch und riechen auch. Fred schien eine Tortilla zubereitet zu haben. Aber eigentlich interessierte sich Anna im Moment nur für das eine: würde sie es schaffen, in umgekehrter Körperhaltung, mit Hilfe der schwarzen Verkleidung, wedelnden Armen und  ohne etwas zu sehen sich so zu fühlen wie dieses Wesen? Oder blieb es bei der Vorstellung, wie es wohl wäre, so ein Wesen zu sein? Subjektives oder objektives Bewusstsein, das war hier die Frage. Der Philosoph Thomas Nagel sagt, es sei unmöglich zu wissen, wie es wäre, ein dem Menschen so wesensfremdes Geschöpf zu sein. Mit Empathie würde man es nicht wissen können, weil diese auf einem subjektiven Bewusstsein beruhe. Auch Phantasie – damit war Anna gesegnet – bringe nichts. Diese beruhe auf unsern menschlichen Erfahrungen und sei deshalb beschränkt. Na, wir werden sehen. Noch war Anna erst am Anfang ihres Experiments. Der wichtigste Teil stand noch bevor. "Himmel noch mal, bist du eigentlich taub?" Fred stieß die Tür zu Annas Zimmer wütend auf. "Ich habe schon zwei..." Er verstummte beim Anblick von Anna. "Sag mal spinnst du?" rief er außer sich. "Ich bin nicht taub, im Gegenteil und spinnen tu ich auch nicht. Aber ich sehe nichts,“ antwortete Anna. "Würdest Du mir bitte erklären, was dieses Szenario bedeuten soll?" Fred schien  sichtlich verwirrt darüber zu sein, Anna in der ungewohnten Stellung mit hochgestreckten Beinen und bedeckt vom wallenden Stoff des Mantels zu sehen. Das Wedeln mit den Armen hatte sie inzwischen eingestellt. Die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren war zu groß. "Man sagt nicht `Szenario`. Das heisst `Situation`. Hat mein Tutor gesagt“. „Mir passt aber diese `Situation`nicht. Das Essen wartet! Sag mir endlich, was diese Turnübung zu bedeuten hat!" "Ich turne nicht, ich studiere." Anna ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es kam jetzt darauf an, sich voll zu konzentrieren. Sie setzte zu einem hohen Pfeifton an. In der unbequemen Stellung kein Kinderspiel! "Was soll denn dieses Pfeifen? Machst du dich über mich lustig?" Fred ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Ich versuche gerade, dich zu lokalisieren." "Wie bitte?" "Da ich nichts sehe, tu ich das mit Hilfe der Echolotortung." "Ich sitze hier auf dem Stuhl, während die Tortilla anbrennt," jammerte Fred. "Ich mag keine Tortilla." Anna spürte, dass sie auf dem richtigen Weg war. Ihr Bewusstsein schien sich zu verändern. "Du magst keine Tortilla! Wieso denn das jetzt plötzlich?" Freds Stimme klang hilflos. "Ich ziehe Insekten vor." Ohne dass Anna einen weiteren hochfrequentierten Ton ausstoßen musste, nahm sie wahr, wie Fred vom Stuhl aufsprang. "Würdest du jetzt bitte mit dem Quatsch aufhören!?" Anna begann erneut mit den Armen zu wedeln. Der Stoff des Mantels bewegte sich auf und ab. Die Füße gegen die Decke gestreckt piepste sie mit hoher Stimme: "Ich bin eine Fledermaus!" Wutschnaubend verließ Fred das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Durch den Luftstrom veranlasst bewegte sich der Stoff um Annas Arme, ihre Beine wiegten leicht in der Luft. Es war schön, eine Fledermaus zu sein. Hm - aber die Tortilla roch auch sehr gut...

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