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Der Schlossherr von Beuggen
19. März 2024
Wie stellt man sich einen Schlossherrn vor? Gebildet, vornehm, gut gekleidet, gastfreundlich, zuvorkommend, galant, an Kunst interessiert, aristokratisch.
Ob der Schlossherr von Beuggen dieser Vorstellung entspricht? Weit gefehlt. Das Gegenteil von Allem ist der Fall. Er ist «Event-Manager», seine Angetraute hat dieses Fach sogar studiert. Seltsam nur, dass dieser Manager auf keine Mails antwortet, ja sie nicht einmal richtig liest. Wenn man ihn anruft ist er immer gerade in einer wichtigen Sitzung. Etwas beherrscht er jedoch sehr gut: Er schwatzt viel, ohne etwas zu sagen und er macht Vorwürfe ohne Ende. Wenn man ihn zurechtweist, fühlt er sich gemassregelt wie ein Schulbub – seine Worte. Etwas Wahres muss wohl dran sein.
Die Aufführung des Theaterstückes «Kunst» von Yasmina Reza am vergangenen Sonntag im Rittersaal des Schloss Beuggen war ein Erfolg. Das Publikum bedankte sich mit warmem Applaus und vielen Komplimenten. Der Schlossherr hat davon leider nichts mitgekriegt. Er lag während der Aufführung vor dem Rittersaal auf einem antiken Sofa und spielte auf seinem Handy rum. «Was für ein Fehlschlag»! Zitat aus dem Theaterstück von Yasmina Reza.
©P-DUR
18.03.2024
Das Kind, das Anna in den Fuss biss
10. Dezember 2023
Seit ihrer Stellvertretung an Weihnachten vor einem Jahr - Anna hatte damals versucht, die Weihnachtsgeschichte mit einer Integrationsklasse als Theaterstück aufzuführen - hatte sie es tunlichst vermieden, sich wieder auf eine solche Arbeit einzulassen. Bis gestern. Ein SOS - Ruf von Annas ehemaliger Chefin erreichte sie am Vorabend. Die Theaterpädagogin sei krank, man sei in einer misslichen Lage, warteten doch insgesamt 18 Primarschulklassen, eingeteilt in sechs Gruppen, im 20 Minutentakt in die zauberhafte Welt des Theaters eingeführt zu werden. Anna war sehr empfänglich für Schmeicheleien. Als die Chefin ihr ins Ohr säuselte, wie erfahren und flexibel sie doch sein, und wie traurig es ist, ihre Fähigkeiten so brach liegen zu sehen, musste sie einfach zusagen.
Der Raum, indem das Spektakel stattfinden sollte, war angenehm. Keine Turnhalle, Gott bewahre! Ein schöner Raum im alten Schloss, mit viel Holz und wunderschöner Aussicht auf das Dorf und den Innenhof des Schlosses. Eine gute Voraussetzung für eine risikoreiches Unternehmen wie dieses.
Die erste Gruppe von Kindern, etwa 40 an der Zahl erschien pünktlich, frisch vom Morgentau und mit erwartungsvollen leuchtenden Augen ließen sie sich von Anna willig führen. Sie spielten "Klebriger Ball" und brachten immer neue Ideen, was denn dieser kleine grüne Lederball sonst noch alles sein könnte: ein Igel, den man im Kreis von Hand zu Hand geben musste, ein schwerer Stein oder ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war und welches man sachte wieder dorthin zurücktrug.
Die zweite Horde, diesmal etwa 50 Kinder, fiel wild und laut in Annas Zauberwelt ein. Sie waren älter und hatten zum Teil Namen, welche Anna schwer verstand und kaum aussprechen konnte.
Trotzdem, sie wollten etwas erleben und gaben ihrem Interesse lautstark Ausdruck. Vor allem das Rollenspiel hatte es ihnen angetan. Anna hatte eine Schachtel mit Zettelchen vorbereitet. Daraus durfte jeweils ein Kind eines auswählen und diese Rolle wurde dann von allen gespielt. Anna hoffte insgeheim, dass kein Tiger oder sonst etwas Gefährliches gezogen würde. Beim Koch, der Prinzessin oder dem Gärtner konnte nicht viel Schlimmes passieren, außer dass vielleicht ein Kind eine imaginäre Schaufel über den Kopf gehauen bekam. Schwieriger wurde es schon beim Zauberer oder Polizisten. Der musste natürlich rumballern und über die Gauner herfallen.
Bei der dritten Gruppe von Kindern, Anna verspürte schon die ersten Zeichen von Heiserkeit, war es dann soweit. Bei der Improvisation "Wo bin ich" wurde "Kino" gezogen. Super, dachte Anna, die Kinder können nicht rumrennen, sondern müssen sich vor eine imaginäre Leinwand setzen und zuschauen. Weit gefehlt. Die Akteure im Film wurden sofort live gespielt, was beim Monsterfilm besonders gruselige Szenen zur Folge hatte. Anna unterbrach mit ihrem Zaubergong. Sie überlegte einen kurzen Moment, wie sie die Kinder und vor allem die anwesenden Lehrkräfte etwas beruhigen könnte und gab das Genre "Tierfilm" ein. Aber auch hier dauerte es nicht lange, bis einige Kinder sich aus dem Zuschauerraum des Kinos ins Geschehen auf der imaginären Leinwand stürzten und von dort wieder zurück in den Kinosaal! Auch Anna befand sich natürlich hier und schrie plötzlich auf! Ein Tiger hatte sie ins Fußgelenk gebissen! Ja wo gab es denn so etwas! Und da behauptete man, die heutigen Kinder seien träge und hockten nur schlapp herum!
Sie sind mutig, meinte ein Lehrer, als er mit seiner Klasse den Raum verließ. War das jetzt ein Kompliment oder eine Kritik? Anna entschied sich, die Aussage als Kompliment zu deuten und kümmerte sich um ihr verletztes Fußgelenk. Zum Glück war gerade Pause!
Die Weinprobe
09. Juli 2023
«Dieses Jahr möchte ich meinen Geburtstag wieder feiern!» Fred stand frisch geduscht im T-Shirt und kurzen Hosen vor Anna. Sie blickte müde von ihrer Teetasse hoch. Wieder einmal hatte sie schlecht geschlafen. Fred machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. «Weißt du, kein großes Fest, nur die engsten Freunde sollen dabei sein. Und du wirst überhaupt keine Arbeit haben mit Essens-Vorbereitungen.» «Aha,» murmelte Anna und nahm einen Schluck Tee. «Ich habe nämlich eine wunderbare Idee. Ich lade zu einer Weinprobe ein.» «Soso. Und wen alles»? fragte Anna. Ich dachte, die Grüningers, die Jermanns, die Wolffs, vielleicht noch die Portoluzzis und die»…«Das sind schon zehn, mit uns», unterbrach Anna. «Also gut, die Portoluzzis lade ich nicht ein. Wäre ja sowieso an ihnen, uns einzuladen.» «Aber die Grüningers und die Jermanns zusammen?» fragte Anna und runzelte die Stirn. «Findest du das eine gute Idee?» Sie trank ihren Tee aus. «Wieso denn nicht»? wollte Fred wissen. «Weil die Grüningers doch ihre Teilnahme an der gemeinsamen Reise abgesagt hatten, als sie erfuhren, dass die Jermanns auch dabei sind.» «Ach so», meinte Fed. «Ich sehe das nicht so eng. Das war ein Missverständnis. Und bei einem guten Glas Wein werden wir das klären.» «Runterspülen, meinst du.» Annas Ton war spöttisch. «Muss man denn immer alles ausdiskutieren? Schwamm drüber und basta!» «Na dann viel Glück.» Anna stand auf, stellte die leere Tasse in die Spüle und verschwand im Bad.
Die Dusche tat ihr gut. Als sie das Bad verließ, legte Fred gerade den Hörer auf. Die Portoluzzis sind dabei», rief er freudig. «Ich dachte, die lädst du nicht ein?» »Sie haben sich so über die Einladung gefreut.» «Die freuen sich immer, wenn sie eingeladen werden.» Annas Stimmung verdüsterte sich wieder. Sie war zwar gerne großzügig, aber vorzugsweise bei großzügigen Menschen. Und dazu gehörten die Portoluzzis nun einmal nicht. Fred war schon wieder am Telefonieren. «Die Wolfs wären auch gerne dabei, aber leider hat Peter gerade eine Ausstellung. Er fragt, ob wir nicht einen anderen Termin ausmachen könnten.» Fred hielt den Hörer noch in der Hand. Anna machte eine Grimasse und zischte: «Sag ihm, es sei schwierig, einen Geburtstag zu verschieben.» «Ne, geht leider nicht», sagte Fred in den Hörer. Anna ist so beschäftigt.» Jetzt stand Anna wütend auf und schmiss das schmutzige Frühstücksgeschirr mit viel Getöse in die Spüle. »Nein, nein nichts ist runtergefallen», sagte Fred beschwichtigend in den Hörer. «Ja ich melde mich ein anderes Mal wieder.» Er legte auf. «Anna, bitte, du verdirbst mir den ganzen Tag. Ich hatte so gute Laune, hervor ich dich hier in der Küche antraf. Was ist denn los?» Fred klang ziemlich verzweifelt. Anna atmete tief ein und aus. Sie wusste, dass sie nicht in guter Verfassung war. Aber darauf könnte Fred doch auch etwas Rücksicht nehmen. «Tut mir leid», murmelte sie. «Schon gut», Fred lächelte und griff wieder zum Telefon. «Ich rufe jetzt die Grüningers an.» Das tat er und war erfolgreich. «Was für eine tolle Idee, sicher sind wir dabei», meinte Ulla. Fred strahlte. Jetzt würde er noch seine allerbesten Freunde anrufen. Die Jermanns würden sicher begeistert sein von seiner Idee. So war es auch, bis Eva fragte, wer denn an der Weinprobe noch dabei sei würde. «Ach so, die Grüningers», meinte sie kühl. Na dann müsse sie doch zuerst ihren Karl fragen. Sie hängte auf. «Habe ich dir nicht gesagt, dass es da ein Problem gibt?» Anna sah Fred herausfordernd an. Er wich ihrem Blick auf, brummte etwas und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Er bestrich sie dick mit Butter und Marmelade. Gerade als er den ersten Bissen im Mund hatte, klingelte das Telefon wieder. «Die Jermanns», sagte Fred mit vollem Mund. «Stell den Lautsprecher auf laut», flüsterte Anna. «Es tut uns sehr leid, aber wenn die Grüningers dabei sind, möchte wir auf die Teilnahme verzichten.» Es war die Stimme von Klaus. Wenigstens sind die ehrlich, dachte Anna. Fred wusste nicht, was er antworten sollte, murmelte etwas von verstehen und verabschiedete sich. Jetzt saß er da wie ein begossener Pudel. Mein armer Fred, dachte Anna. Er ist manchmal wirklich naiv wie ein Kind. Es klingelte wieder. Unschwer zu erraten, wer jetzt dran war. Diesmal war es Ulla, die sich vorsichtig erkundigte, wer denn außer ihnen noch zur Weinprobe käme. Er wisse es noch nicht so genau, stammelte Fred. Sie und ihr Mann Gustav hätten nämlich etwas Bedenken, wenn die Jermanns auch dabei wären. Deshalb wollten sie lieber auf die Teilnahme verzichten und ihm ein anderes Mal zum Geburtstag gratulieren. Fred sas mit offenem Mund da. Anna hörte ein Knacken in der Leitung. Ulla hatte aufgehängt. Jetzt können wir nur hoffen, dass die Portoluzzis auch wieder absagen und wir den Abend allein geniessen können, dachte Anna. Aber das wird ziemlich unwahrscheinlich sein.
31.5.2023 ©P-Dur
Mandelhörnchen oder Vanillegipferl
03. Januar 2022
Fred nennt sie Vanillegipferl. Anna Mandelhörnchen. Richtig wäre: Vanille Kipferl. Und man braucht dazu sowohl Vanille als auch Mandeln.
Für die Zubereitung war Fred zuständig. Er sei Spezialist, da er die Dinger jedes Jahr backe. Das Rezept wisse er im Traum. Anna war dafür verantwortlich, dass genügend Zutaten im Haus waren. Die Mandeln waren kein Problem. Aber Vanilleschoten schienen dieses Jahr eine Rarität zu sein. Wahrscheinlich wegen den Lieferengpässen, dachte sie.
Gut gelaunt machte sich Fred ans Werk. Er rumorte in der Küche herum, riss alle Schubladen und Schränke auf, wog Mehl, Zucker, Butter ab und kratzte die Vanillestengel aus, dass einem beim Zuschauen schwindlig wurde. Anna floh. Als sie am Abend nachhause kam, freute sie sich über den angenehm weihnachtlichen Duft. Allerdings verflog ihre gute Laune schnell, als sie Schüsseln, Rührstäbe, Backbleche, Backpapier, ein Sieb und andere Utensilien in der Küche verstreut vorfand. «Fred», rief sie verzweifelt. Aber Fred hörte nichts. Er guckte Sportschau. So machte sich Anna allein daran, die Küche zu putzen. Sie schimpfte dabei, wie ein Rohrspatz. Fred schlich schuldbewusst herbei und stimmte in ihr Geschimpfe ein. Aber aus einem andern Grund: Borussia Dortmund hatte verloren. Immerhin half er doch noch mit, das Chaos aufzuräumen.«Ja was ist denn das»? rief er plötzlich. Er hielt zwei Päckchen mit gemahlenen Mandeln in die Höhe. «Die habe ich vergessen! Sie gehören in den Teig.» Anna runzelte die Stirn, brach die Putzaktion ab und verzog sich in ihr Zimmer. So geschah es, dass Fred noch einmal zu Schüsseln, Rührstäben, Backblechen und den Zutaten griff.
Es war fast Mitternacht, als erneut ein verführerischer Duft aus der Küche strömte. Anna steckte schlaftrunken ihren Kopf durch den Türspalt. «Es riecht gut», flüsterte sie. «Aber irgendwie anders», und huschte in ihr Zimmer zurück.
Erst am nächsten Morgen wurde klar, was den Unterschied ausmachte. Diesmal fehlten die Vanilleschoten - wegen der Engpässe eben. «Jetzt haben wir Mandelhörnchen ohne Mandeln und Vanille Kipferl ohne Vanille», scherzte Anna. Fred schmollte. „Dieses Jahr geht aber auch alles schief,» seufzte er.
Die Brücke
22. Mai 2021
Als Anna das Gebäude verliess, hatte sie eine dunkle Vorahnung. Der kleine Picks im Arm hatte etwas ausgelöst. Anders als beim ersten Mal hatte sie ein Brennen gespürt. Der junge Mann am Ausgang wünschte ihr alles Gute. Es schien von Herzen zu kommen, obwohl er heute sicher schon hundert Mal den gleichen Satz gesagt hatte. Ob er den ganzen Tag hier stehen musste? Wahrscheinlich hätte er sich gerne auf einen Stuhl gesetzt. Stühle waren Mangelware. Sie standen in der grossen Halle in abgemessenen Abständen und wurden einem zugewiesen. Beim ersten Mal war das so. Dieses Mal war Anna direkt in eines der kleinen Abteile gelotst und auch sofort wieder hinausbugsiert worden. Fünf Minuten Ausruhen und Auschecken. Im Auto warf sie einen kurzen Blick aufs Handy. Dann fuhr sie los.
Es herrschte bereits Feierabendverkehr. Das Wechseln der Spur auf der Autobahn war schwierig. Sie fühlte sich unsicher, anders als sonst. Dann kam diese Brücke. Sie hatte sie schon hunderte Male überquert. Jetzt stauten sich die Autos. Mitten auf der Brücke steckte Anna fest. Sie öffnete das Fenster und stellte den Motor ab. Dann schaltete sie das Radio ein. Die Stimme des Sprechers erklang. Das Hörbuch begleitete sie auf allen Fahrten. Die moderne Technik erlaubte es. Was die Stimme sagte, verstand sie nicht. Vielmehr nahm sie ein Rauschen in ihrem Kopf wahr. Eine leichte Übelkeit überfiel sie.
Der Fahrer vor ihr hatte seinen Wagen verlassen. Er lehnte lässig an seinem alten Ford und rauchte eine Zigarette. Ob sie ihn bitten sollte, ihr eine zu geben – manchmal half das gegen Kreislaufprobleme. Nein, ihr war übel. Sie brauchte frische Luft, sonst gar nichts. Wieso nur liess der Idiot hinter ihr den Motor laufen. Es stank doch schon genug!
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte langsam ein- und auszuatmen. Die Augen hielt sie geschlossen. Alles drehte sich. Sofort öffnete sie die Augen wieder und versuchte aufrecht zu sitzen. Das Rauschen wurde stärker, ein stechender Kopfschmerz durchfuhr sie. Wasser – wo war die Wasserflasche. Es gab keine. Sie erinnerte sich, dass sie am Vormittag das Auto vom Müll befreit hatte. Eine halbleere Wasserflasche war dabei gewesen. Sie hatte befürchtet, das Wasser könnte verdorben sein. Wieso war sie nur immer so übervorsichtig!!
Panisch riss sie die Autotür auf und versuchte auszusteigen. Der Mann mit der Zigarette schaute kurz in ihre Richtung und dann wieder weg. Plötzlich hatte sie die Bilder der eingestürzten Brücke in Mexiko vor Augen, Metallstücke, Steinbrocken, eingedrückte Hausdächer. Ihr linker Fuss berührte den Asphalt. Er gab nach. Die Brücke gab nach! Sie hörte einen kurzen durchdringenden Schrei. Der Mann drehte sich zu ihr um. Während sie sich wieder in den Sitz fallen liess, kam er auf sie zu. Die Zigarette hatte er achtlos zu Boden geworfen. „Vorsichtig! Der Boden!“ schrie Anna. Er war jetzt ganz nahe und kniff die Augen zusammen. „Kann ich helfen?“ „Die Brücke – sie stürzt ein – zu viele Autos“, keuchte Anna. „Langsam und ganz ruhig, sagte der Mann, alles ist in Ordnung.“ Er verschwand, um gleich danach mit einer halbvollen Petflasche wieder zu erscheinen. „Hab nur das, trinken sie“. Ohne zu zögern nahm sie einen Schluck. Es tat gut. Kurz schloss sie die Augen. Dann flüsterte sie „Danke“. Der Mann stand immer noch vor ihrem Auto. Der Boden hatte nicht nachgegeben. „Geht’s wieder?“ Sie nickte. „Behalten sie die Flasche.“ Und wenn er nun Corona hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Hinter ihr hupte es. „Wir müssen.“ Er ging zu seinem alten Ford und zwinkerte ihr noch einmal zu. Sie startete den Motor. Langs bewegte sich die Autoschlange vorwärts. Gleich hatten sie das Ende der Brücke erreicht. Sie fühlte sich besser. Sympathisch war er, dieser Typ mit seinem alten Ford.
22.5.2021
©P-Dur
Wo ist Geppetto?
12. Dezember 2020
Pinocchio hockte in einer Ecke der kleinen Küche und weinte bitterlich. Geppetto war von der Polizei abgeführt worden und Pinocchio war schuld daran. Jetzt war er ganz allein. Plötzlich war ein leises Kri-kri-kri zu hören. Pinocchio schnäuzte sich in den Ärmel seiner Jacke und blickte unsicher umher. Kri-kri-kri! Da war es schon wieder. «Ist da jemand», fragte Pinocchio. «Ich bin die sprechende Grille. Ich wohne schon über hundert Jahre hier.» «Blödsinn», sagte Pinocchio. «Hier wohne ich mit meinem Papa.» «Wo ist denn dein Papa», wollte die Grille wissen. «Er ist auf den Markt gegangen», antwortete Pinocchio. «Du lügst,» rief die Grille. «Ich sehe es an deiner Nase.» Da wurde Pinocchio sehr wütend. Er nahm den Hammer von Geppetto’s Werkbank und warf ihn nach der Grille. Sie war sofort tot. Wieder begann Pinocchio zu heulen. Was hatte er doch für ein Pech. Er hockte sich in die Ecke und schlief ein.
Als Pinocchio aufwachte wusste er nicht, wo er sich befand. Diese Küche kannte er nicht. Schränke, die weiss glänzten, seltsame Geräte, die umherstanden, Geschirr, fein wie das Teeservice der englischen Königin! Pinocchio stand zögernd auf und näherte sich dem Tisch. Darauf stand eine Tasche mit Riemen. Er öffnete sie und fand ein Lesebuch und eine Schachtel mit Buntstiften. Neben der Tasche lag ein kleines, rechteckiges Gerät. Plötzlich fing das Gerät an zu surren. Pinocchio erschrak! Eine riesiger Käfer, schoß es ihm durch den Kopf. Aber so flach? Das Surren hörte auf, dafür gab der Käfer zwei hohe Töne von sich. Pinocchio nahm den Käfer vorsichtig in die Hand. Der Käfer ließ es geschehen. Jetzt lächelte er sogar. «Wer bist du», fragte Pinocchio. «Ich bin Siri.» «Und was willst du?» «Geh zur Schule», sagte Siri. «Wieso?» «Weil Geppetto es wünscht.» «Wo ist mein Papa?» «Du wirst ihn bald wiedersehen. Aber zuerst musst du zur Schule gehen.»
Als Pinocchio auf die Strasse trat, glaubte er zu träumen. Die Häuser waren hoch wie Türme, die Straßen breit wie Flüsse. Viele Menschen liefen eilig umher. Auf Straße bewegte sich eine lange grüne Schlange. Auch viele Kisten fuhren umher. Sie waren nicht so flach wie Siri und hatten richtige Räder. «Wo willst du denn hin, kleiner Kerl?» Pinocchio schaute hoch und blickte in ein Gesicht mit einem riesigem Zwirbelschnauz. «Dich könnte ich gut gebrauchen in meinem Puppentheater.» «Ich muss zur Schule», antwortete Pinocchio. «Willst du dort deine Zeit vergeuden? Bei mir kannst du viel Geld verdienen!» Das ließ sich Pinocchio nicht zweimal sagen. Mit dem Geld würde er Geppetto einen neuen Mantel kaufen und frische Brötchen und Marmelade! «Also was jetzt?» Pinocchio hörte ein Surren in seiner Tasche. Jetzt hatte er keine Zeit für Siri. Im Puppentheater wurde er freudig begrüßt. Die Puppen nahmen ihn in die Mitte und tanzten wild um ihn herum. «Los auf die Bühne», befahl der Mann. «Das Publikum wartet.»
Als Pinocchio wieder auf der Straße stand, fühlte er sich betrogen. Von Geld auf einem Konto hatte der Mann gesprochen und ihm eine Karte und einen Zettel in die Hand gedrückt. Da standen Buchstaben und eine Nummer drauf. Wenn er doch nur lesen könnte. Vielleicht kann Siri helfen. Für etwas musste sie doch gut sein. Siri wusste Bescheid. So stand Pinocchio kurze Zeit später an einem Bankomaten und schob die Karte in die Öffnung. Jetzt noch die Zahlen eintippen. Das war gar nicht so einfach mit seinen klobigen Holzfingern. «Kann ich dir helfen?» Ein Mädchen stand neben ihm. Sie schien sich auszukennen, nahm ihm den Zettel aus der Hand und tippte die Nummer ein. Es dauerte einen Moment, da öffnete sich wie von Zauberhand ein Fach und Geldscheine erschienen. Pinocchio traute seinen Augen nicht. Doch ehe er sich versah, griff das Mädchen nach den Scheinen und rannte davon. «Halt, halt!» schrie Pinocchio! «Das ist mein Geld!» Er rannte dem Mädchen hinterher, durch das Gewühl der Straße, durch den Park und bis zum Strand. Hier wimmelte es von Menschen. Pinocchio konnte das Mädchen nicht mehr erblicken. Erschöpft ließ er sich in den Sand fallen und schaute dem Treiben zu.
Mehrere Männer versuchten ein riesiges Schlauchboot an Land zu ziehen. Auf dem Boot befanden sich Menschen mit schwarzen Gesichtern und orangen Westen. Die Männer schrien einander Worte zu. Der Wind peitschte die Wellen. Pinocchio konnte nichts verstehen. Plötzlich entdeckte er Geppetto. Er half einer Frau mit einem Kind aus dem Boot. Wie von der Tarantel gestochen sprang Pinocchio auf und rief: «Papa!» Geppetto hörte ihn nicht. Pinocchio rannte auf ihn zu und zerrte an seinem Hosenbein. Da endlich bemerkte ihn Geppetto. Seine Augen leuchteten. «Wo kommst du denn her?» «Von der Schule», log er. Die Nase wuchs. Geppetto zwinkerte mit dem linken Auge. «Man hat mich zum Zivildienst verdonnert», sagte er. «Pack mal an, hier gibt es viel zu tun! Decken holen, Getränke verteilen. Du kannst dich nützlich machen.» Vor Freude sprang Pinocchio hoch in die Luft. Das hatte er im Puppentheater gelernt.
Bewusstsein
29. November 2020
«Wie geht es der Fredliebenden heute?» Fred sah Anna besorgt an. Anna antwortete nicht. Sie öffnete den Kühlschrank und überlegte, auf was sie Lust hatte. «Es zieht», sagte Fred. «Bitte?» «Es zieht, schliess bitte den Kühlschrank.» Freds Stimme klang ungeduldig. «Kann ich nicht. Wenn ich den Kühlschrank jetzt schliesse, könnte es ein Fehler sein.» Fred seufzte. «Ich bin bereits im Stadium der Beobachtung einer mentalen Aktion», fuhr Anna fort. „Seit wann ist das Öffnen und Schliessen eines Kühlschrankes eine mentale Aktion?» Fred schritt langsam auf Anna zu und legte sanft die Hand auf ihre Stirn. «Fieber hast du keines.» Dann schloss er den Kühlschrank. «Wer weiss, vielleicht habe ich jetzt gerade doch Fieber.» «Nein Liebes sei beruhigt.» «Wie kannst du so sicher sein? Du beobachtest etwas, das du zuvor wahrgenommen hast. Deine Beobachtung kann dich täuschen!» «Ich habe doch soeben die Hand an deine Stirn gehalten!» «Das war vor fünf Sekunden.» «Du glaubst, die Körpertemperatur ändert sich so rasch?» «Darum geht es nicht. Jede mentale Aktion ist intentional. Und sie ist nur in der Gegenwart wahr. Wenn die Wahrnehmung beobachtet wird, gehört die Handlung bereits der Vergangenheit an. Und die gibt es bei mentalen Aktionen gar nicht! Dein Bewusstsein kann dich also täuschen.» Fred setzte sich auf den Hocker, der neben der Bar stand. Er schaute Anna aufmerksam an. «Was siehst du?» fragte Anna. «Dich», antwortete Fred. «Bin ich real, oder existiere ich nur, weil du mich siehst», fragte Anna. Fred schloss die Augen. «Ich sehe dich immer noch», sagte er. «Nur weil du dich an mich erinnerst, erwiderte Anna. Das ist trügerisch.» «Nein Anna, das ist nicht trügerisch. Ich bin ein Annasehender, auch mit geschlossenen Augen. Und ich spüre dich.» «Spüren? Was ist denn das für eine Wahrnehmung? Kann man sich darauf verlassen?» «Ich schon», sagte Fred. «Und ab sofort verbiete ich Dir, diese Online-Vorlesung über Franz Brentano weiter zu besuchen.» Seine Stimme klang ernst. «Wie willst du das denn machen?» «Ich kündige unsern Vertrag bei der Telekom. Darauf kannst du dich verlassen.»
Ich bin eine Fredliebende
01. November 2020
«Ich bin eine Fredliebende.» « Wie bitte?» Fred liess die Zeitung sinken und schaute Anna unsicher an. «Du bist eine Friedliebende? Davon merke ich in der letzten Zeit aber wenig.» «Eine Fredliebende, nicht eine Friedliebende», erwiderte Anna. «Was soll denn das heissen?» Fred faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. «Das heisst, dass ich dich als Objekt nicht brauche.» Fred war empört. «Da haben wir’s! Und so etwas will eine Friedliebende sein?» «Aber Fred, ich rede von Brentanos These der Intentionalität!» Anna griff nach der Zeitung. «Seit wann braucht ein Dichter Thesen?» fragte Fred. »Soviel ich weiss, entstehen Gedichte einfach so. Ein Gefühl drängt ins Bewusstsein und wird dann formuliert.» «Bei Brentano wird vor allem umformuliert», warf Anna ein. «Übrigens sollte man auch den Begriff «Bewusstsein» etwas genauer betrachten», sagte sie und schlug die Zeitung auf. «Wieso umformulieren? »Reicht formulieren nicht?» Nein Fred, beim Franz eben nicht.» «Er heisst Clemens», erwiderte Fred und blickte Anna belehrend an. «Nein! Der, welcher umformuliert heisst Franz und der, der formuliert heisst Clemens.» Anna schaute triumphierend über den Rand ihrer Lesebrille. Fred schien nachzudenken, dann sagte er plötzlich:
«Da wir zusammen waren
Da sang die Nachtigall
Nun mahnet mich ihr Schall
Dass du von mir gefahren.»
«Das ist von Clemens, nicht wahr”, sagte Anna. «Es ist traurig. Wie geht es weiter?» «Das hängt eben von der Intentionalität ab», meinte Fred und fuhr fort:
«Gott wolle uns vereinen,
hier spinn ich so allein
der Mond scheint klar und rein
ich sing und möchte weinen.»
«Nimm es nicht so schwer, sagte Anna. Wenn hier jemand spinnt, bin ich es.» «Welche Einsicht plötzlich!» Fred guckte hoffnungsvoll. «Aber mein Brentano heisst Franz», sagte Anna.
©P-Dur 31.10.2020 Der Text entstand nach einer Vorlesung über Franz Brentano
Auszüge aus dem Gedicht «Der Spinnerin Nachtlied» von Clemens Brentano
Annas Corona-Tagebuch
16. März 2020
Anna schob die Töpfe aus der Winterecke auf den vorderen Teil der Terrasse. Die Sonne schien, der Frühling hatte sich angekündigt. Was da schon wieder alles aus der Erde hervorlugte! Die vertrockneten Hortensien wollten die ersten Sonnenstrahlen erhaschen. Sie zeigten mit ihren kleinen grünen Spitzen, die sie wie Stupsnäschen aus dem vertrocknetem Laub empor strecken, dass sie noch am Leben waren. Die Narzissen, die Anna im vergangenen Herbst achtlos auf den Kompost geworfen hatte, schlüpften aus ihren Zwiebeln und leuchteten in frischem Gelb! Anna staunte über soviel Widerstandskraft! Was gibt es Stärkeres als die Natur!
17.März 2020
Anna traute ihren Augen nicht. Da stand es schwarz auf weiss in der Zeitung: „Grenzübergang geschlossen, auch Radwege gesperrt“. Das musste sie mit eigenen Augen sehen, da würde sie heute mal hin radeln. Das würde ja bedeuten, dass sie ihre betagten Eltern auf der andern Seite der Grenze nicht mehr besuchen konnte. „Fred, ich darf nicht mehr in die Schweiz fahren!“ Fred reagierte nicht. Er war gerade damit beschäftigt, die Geschirrwaschmaschine auszuräumen. Anna wusste, dass die Einschränkungen im persönlichen Leben Fred hart trafen: Keine Reisen, kein Kino, kein Fitnesszentrum, Schulen geschlossen - auch für Senioren - Geschäfte geschlossen...Wenigstens gab es noch die Geschirrwasch-maschine. Anna wollte ihn in seiner Tätigkeit nicht stören und wandte sich wieder der Lektüre der Zeitung zu. Jetzt galt es, sich mit der Isolation anzufreunden, den Alltag neu zu gestalten.
Zwei Sunden später hatte Anna die Gewissheit. Sind stand vor der Absperrung, wo der Fahrradweg normalerweise der Bahnlinie entlang nach Riehen führte. Und sie war nicht die einzige. Zwei junge Frauen auf der Schweizer Seite, an der Sprache eindeutig als Deutsche erkennbar, wollten zurück nach Lörrach. Zwei junge Typen auf Annas Seite - also auf der deutschen - gaben den Frauen kluge Ratschläge, machten aber ansonsten einen ziemlich naiven Eindruck. „Glauben sie an diese Sache mit dem Virus?“ fragte der eine. „Natürlich“, antwortete Anna. Darauf zogen sie von dannen.
18.März 2020
Wenn Fred etwas gut beherrschte, so war es Regeln und Gesetze zu umgehen. Daran war jetzt auch Anna interessiert. Und so fuhr man zur „eisernen Hand“, einer kleinen Schweizer Landzunge im Wald oberhalb von Inzlingen. Hier hatten im zweiten Weltkrieg viele Flüchtlinge versucht, die Grenze zu überschreiten. Wenigen ist es gelungen. Heute lag der Ort mit Sicht auf grüne Felder in der Frühlingssonne unschuldig und friedlich da. Auch einem Grenzübertritt stand nichts im Wege, keine Absperrung, kein Schlagbaum, nicht einmal eine Verbotstafel. Oder war der seltsame Typ am Wegesrand etwa ein Polizist in Zivil? War er hier stationiert, um eventuelle Verstöße zu melden? Anna nahm sich vor, am nächsten Tag nochmals diesen Ort aufzusuchen. Sie musste sich vergewissern, dass man sich auf dieses Schlupfloch verlassen konnte.
19.März 2020
An diesem Tag war Anna gar nicht gut drauf. Fred wollte sich einer in ihren Augen unnötige medizinische Untersuchung unterziehen. Er verzichtete dafür über 24 Stunden auf Nahrung und trank eine grauenhafte Flüssigkeit, um sich in der Folge immer wieder aufs stille Örtchen zurück zu ziehen. Annas Hinweis, dass die im Spital jetzt wahrscheinlich anderes zu tun hätten, als seinen Allerwertesten zu untersuchen, machte Fred keinen Eindruck. Immerhin ließ er sich mit dem Auto hinfahren und auch wieder abholen. Er wäre aber liebend gerne mit dem Bus gefahren - der starke unabhängige Fred! Annas Sorge vermischte sich mit Wut - eine gefährliche Legierung. Sollte verboten werden, wie Amalgam. Letzteres wird immer noch in Zähne gefüllt, obwohl es inzwischen in Deutschland als Sondermüll entsorgt werden muss. Aber zurück zu Fred. Er verspeiste nach überstandener Tortur eine halbe Apfelwähe. Anna tröstete sich mit einem „Hauskonzert“ von Igor Levit auf Twitter. Der geniale Pianist spielt die Konzerte jeden Abend, um 19 Uhr in seinem Wohnzimmer. Heute standen sechs Impromptus von Schubert auf dem Programm. Da ging es auch Anna gleich wieder besser.
20.März 2020
Das war ein schwarzer Tag. Schuld daran war dieses kleine miese Ding mit dem schönen Namen, den es nicht verdiente. Anna versuchte noch einmal ihren Standpunkt betreffend diesem kleinen Ungeheuer klar zu machen. Er solle vorsichtiger sein, die Hände gründlicher waschen und nicht zum Einkaufen gehen als wäre alles nichts geschehen. Fred verstand sie nicht, fühlte sich angegriffen und sagte mit eisiger Stimme, dass er darüber nicht mehr sprechen wolle. Anna stand auf und ging unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut auf der Haut. Es spülte die ärgerlichen Gedanken einfach weg. Auch die anschließende Gymnastik weckte neue Lebensgeister. Die wurden auf einen Schlag wieder zunichte gemacht, als Fred nach dem Wocheneinkauf nachhause kam. Er hatte gewissenhaft alles angeschleppt, was Anna auf die Liste geschrieben hatte. Vielleicht hätte Anna ihm ein Kompliment machen sollen, anstatt sich das Gehirn zu zermartern, ob er wohl den Sicherheitsabstand im Aldi eingehalten hatte. Sie kam nicht dazu. Fred schlug vor, von jetzt an getrennte Wege zu gehen. Er hatte sich das anscheinend gut überlegt während seiner Einkaufstour. Er würde das kleine Gästeklo benützen. Im gemeinsamen Badezimmer würde er nur noch kurz duschen. Sonst wäre das sofort ausschließlich Annas Bereich. Er fände es gut, wenn Anna so viel Zeit wie möglich im Atelier verbringen würde. Zu den gemeinsamen Abendessen äußerte er sich nicht. Anna stimmte seinem Vorschlag zu. Ansonsten blieb sie stumm, nahm ihren Kaffee und den verbrannten Toast und setzte sich auf die Terrasse in die Sonne.
21.März 2020
Fred meinte es ernst. Er bereitete zwar ein Frühstück vor, legte die Gedecke aber soweit auseinander, wie man das aus aristokratischen Kreisen kennt. Anna blieb kurz der Atem weg. Dann legte sie ihr Gedeck an den gewohnten Platz zurück. Ihr kleines Haus war nun mal kein vornehmes Schloss mit entsprechend ausladenden Gemächern und Tafeln. Zudem wollte sich Anna nicht vor Fred schützen, sondern Fred sollte sich vor dem Virus außerhalb ihrer vier Wände schützen. Aber das schien er immer noch nicht begriffen zu haben. Das Frühstück verlief in eisiger Stimmung. Anna fragte nach den Zuständen „draußen“. Der Markt hätte sich verändert. Die Stände ständen viel weiter auseinander. Seinen Lieblingsstand hätte er erst suchen müssen. Beim Käsestand hätte er sich in eine Lücke gestellt weil er nicht realisierte hätte, dass es sich bei der Lücke um einen Sicherheitsabstand handelte. Da haben wir’s also wieder. Und wie bitte sehr sollte Anna hier Vertrauen haben? Jetzt würde Putzen oder Gartenarbeit helfen. Da das Wetter schlecht war und auch die Putzfrau momentan ausfiel, entschied sich Anna für das erste. Der gemeinsame Bereich im Erdgeschoss hatte es bitter nötig. Fred nahm von ihren Anstrengungen keine Notiz. Er schloss sich mit seinem PC in seinem Zimmer ein. Es musste ihm wirklich schlecht gehen. Für den Rest des Tages zog sich Anna in ihr Dachgeschoss zurück und nähte.
22.März 2020
Fred kam von seiner morgendlichen Fahrradtour zurück und entschuldigte sich bei Anna. Sein abweisendes Benehmen täte ihm leid. Anna kamen die Tränen. Und sie verzieh ihm. Es galt zusammen zu halten und eine Stimmung zu schaffen, die einem halfen, mit diesen Corona Schreckensnachrichten umzugehen. Diese überschlugen sich. Ausgangs-sperren, Bilder von überfüllten Intensivstationen und Militärkonvois, die hunderte von Särgen nachts aus den Spitälern zu den Krematorien fuhren.
Es war ein trauriger Sonntag. Zeitweise zeigte sich wieder die Sonne, aber frostige Temperaturen luden nicht dazu ein, sich auf der Terrasse auf den Liegestuhl zu legen und Sonne zu tanken. Die sei besonders wichtig, um das lebensnotwendige Vitamin D im Körper zu bilden um das Immunsystem zu stärken. Die Nachbarn taten es, wickelten sich in dicke Wolldecken und wähnten sich in Davos. Der Zauberberg lässt grüßen.
23.März 2020
„Ich bin am bügeln!“ ihre Freundin Carla lachte schallend als Anna sie fragte was sie denn so mache an dem großen Tag. Schließlich sei der 60. Geburtstag ein besonderer Geburtstag. „Ist es ja auch! Der erste, an dem ich mich nicht hübsch machen muss, sondern einfach so sein kann, wie ich bin“, witzelte Carla weiter. „Vielleicht gibt es ja noch die eine oder andere Überraschung in Form von Videobotschaften, Balkon-Musizieren oder virtueller Torte!“ Die beiden Freundinnen chatteten noch eine Weile weiter, erinnerten sich an vergangene Zeiten, als sie zusammen musizierten, Konzerte gaben und viel probten. Die Proben waren überhaupt das Lustigste! Anna erinnerte sich an eine Arie aus dem Freischütz, in der sie verzweifeltet die richtigen Tasten suchte, irgendwie immer weiter wurstelte, bis Clara einen Lachanfall bekam, von dem sich beide nur langsam erholten. Jetzt also war Clara sechzig und bügelte, während Anna alleine in ihrem Atelier saß. Das Leben auf den Straßen stand still, nur die Zeit lief weiter, unermüdlich, unerschütterlich, als ginge sie das alles nichts an. Glückliche Zeit!
24.März 2020
Der Weg zum Atelier führte mitten durch den Friedhof. Es war ein wunderschöner Spazierweg. Alte Menschen benutzten ihn, wenn sie das Grab der Liebsten aufsuchten, Jugendliche, wenn sie von der Schule kamen, Mütter oder Väter, wenn sie mit ihren Kleinen an die frische Luft wollten und der Dreikäsehoch mit seinem neuen Rad die ersten Fahrversuche startete. So war es auch an diesem sonnigen Vormittag. Eine junge Mutter lächelte Anna freundlich an. Sie schob den Kinderwagen vor sich hin. Ein kleiner Junge strampelte sich auf seinem Dreirad ab. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges versammelte sich eine Gruppe von Menschen. Sie waren alle in schwarz gekleidet, wirkten ruhig und bildeten den totalen Kontrast zur Mutter mit den Kindern. Sie standen still, warteten wahrscheinlich auf andere Trauergäste - es dürfen höchstens zwanzig sein - bevor sie sich später zum Grab begeben würden. Die Mutter und ihre Kinder zogen weiter. Der Junge jauchzte.
Anna überlegte kurz, ob sie sich zu den Trauernden gesellen sollte. Vielleicht war es Helga, die Frau aus dem Italienischkurs, die man hier zu Grabe trug? Aber sie fuhr weiter. Der Frühlingswind fuhr ihr ins Gesicht. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.
25.März 2020
Das hatte gerade noch gefehlt! Annas E-Mail Postfach wurde gehackt! Und sie hätte es nicht einmal gemerkt, wenn nicht mehrere wohlmeinende Personen nachgefragt hätten, ob diese seltsame Mail in englischer Sprache wirklich von ihr sei. Anna geriet in Panik. Sie wollte Fred um Hilfe bitten. Er hielt doch immer eine Lösung oder wenigstens eine Erklärung bereit. Leider pflegte Fred in letzter Zeit bis spät in den Vormittag hinein zu schlafen. Wahrscheinlich war er durch die Pandemie jetzt doch in den Pensionierten-Status rüber gewechselt. Als er endlich schlaftrunken im Pyjama in der Küche erschien hielt er Anna einen Vortrag über Internet-Kriminalität und wie man sich dagegen schützen könne, nämlich, indem man auf Apple - Geräte verzichtete und sich einen gewöhnlichen HP PC anschaffte. Da wisse man, woran man sei, weil man selber daran rumfummeln könne. Bei Annas Mac Book würde das eben Apple tun. Anna widersprach energisch. Sie sei sicher, dass nicht Apple persönlich aktiv geworden war, sondern irgend ein schlauer Lausebengel. Dass die Spam-Mail, welche sie angeblich verschickt hatte, einen Anhang von einem dubiosen Corona - Leugner enthielt, setzte dem Unglück noch die Krone auf. Der Tag war gelaufen. Anna, deren Kopf wegen ihrer Migräne fast platzte, telefonierte mit verschiedenen Mitarbeitern der Telekom. Um 16.30 war das Problem endlich aus der Welt geschafft. Sie hatte auch ihren Wortschatz um ein neues Wort erweitert: „“Pishing Mail“. „Fishing Mail“ würde ihrer Ansicht nach besser passen, werden doch ahnungslose Menschen aus einem Meer von Internet-Usern heraus gefischt, um ihnen dann persönliche Kontaktdaten zu stehlen. Anna machte einen Spaziergang, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Langsam beruhigte sie sich. War das jetzt der digitale Fortschritt? Würde die KI in Zukunft wirklich alles besser machen? Sie dachte an die Worte von Robert Musil: „Wir irren vorwärts.“
26.März 2020
Anna stand früh aus. Die Geschenke mussten noch eingepackt, der Kuchen mit Herzen verziert werden. Fred hatte Geburtstag. Was für eine willkommene Abwechslung in diesen Quarantäne - Zeiten! Man würde gemütlich Frühstücken. Fred würde seine Happy-Socks und das selbstgeschneiderte „Corona Hemd“ auspacken. Anna war sicher, dass er sich freuen würde. Und so war es auch. Das Hemd war zwar zu grosß das heisst, die Schultern waren zu breit. Um den Bauch rum passte es. Dafür waren die Socken perfekt. Auch das Buch „Ich“ von Elton John schien ihn zu freuen. Auch die Geschenke von Freds Schwester waren perfekt, angefangen vom weißen Polohemd mit Reißverschluss - wegen Annas Knopfphobie - bis hin zu den ausgewählten Büchern und dem Osterhasen. Dieser musste allerdings sofort verzehrt werden, da Fred ihn beim Auspacken fallen ließ. Am Nachmittag war eine Fahrt mit dem E-Bike nach Rheinfelden geplant. Auch ein Rad muss mal ins Spital. Nicht wegen dem Virus, sondern wegen einer Delle im Hinterrad und einer unzuverlässigen Batterie. Fred radelte, Anna fuhr mit dem Auto hinterher. Wieder zuhause, gab es Kaffee und Kuchen. Der Schokoladenkuchen wurde mit viel Schlagsahne versehen und mit einem Klaren runtergespült. Und wenn man sich jetzt noch die Kirschen vorstellte, schmeckte er wie eine Schwarzwälder Kirschtorte! Freds Lieblingskuchen.
27.März 2020
Am frühen Morgen ging es wieder los mit dem E-Mail Problem. Anna war kaum wach, hatte noch nicht einmal ihren Grüntee zubereitet, als sie ihre Mails checken wollte. „Account-Fehler“. Anna hätte heulen können, rief dann aber doch lieber die Hotline an. Das Postfach konnte zum Glück ohne Probleme wieder entsperrt werden. Na ja - aller guten Dinge sind drei. Wann wird die dritte Freischaltung wohl nötig sein? Viel lieber wäre ihr allerdings, wenn die Grenzen wieder entsperrt würden. Heute war doch Freitag. An diesem Tag war es zur lieben Gewohnheit geworden mit einer selbst gebackenen Quiche und einem Korb voll frischem Gemüse zu ihren Eltern zu fahren. Auch ihre Schwester Maria traf jeweils zum Mittagessen ein. Man plauderte, teilte sich gegenseitig die Sorgen mit, hörte zu, versuchte zu verstehen und wenn nötig zu trösten. Das war jetzt nicht mehr möglich wegen diesem kleinen miesen Ding. Natürlich konnte man telefonieren, sogar mit FaceTime! Aber spielte man sich nicht gegenseitig gute Laune vor? War nicht Jeder und Jede gleich welchen Alters bemüht, gelassen und ruhig zu wirken? Dabei loderten die Ängste innerlich. Ab und zu sprang einmal ein Funken in Form von Wut nach außen. So zum Beispiel, als Fred vom Einkauf gut gelaunt nach Hause kam und eine Tüte „Kernige Vielfalt“ anstatt „Studentenfutter“ mitbrachte. Was bitte schön sollte Anna denn damit anfangen? Sie war doch kein Vogel, der Kerne pickte! Gut - eine Studentin war sie auch nicht mehr.
28.März 2020
Dieser Tag war für Anna der schwärzeste in der Corona-Krise bis jetzt. Nicht nur, weil die Zahl der Infizierten weiter stieg und damit auch die Zahl der Toten. Anna war sehr enttäuscht von Fred. Er ließ sich am Nachmittag von einer befreundeten Familie zum Kaffee einladen obwohl diese einen eben aus Brasilien zurück gekehrten Sohn bei sich in Quarantäne beherbergte. Als Fred leicht schuldbewusst davon erzählte, hatte er Annas Reaktion wohl nicht erwartet. Sie war schockiert, aß nicht mehr und sagte nur: „Das finde ich sehr unverantwortlich von dir!“ Darauf hin zog sich Fred beleidigt in sein Zimmer zurück. Anna machte sich am Corona-Hemd zu schaffen. Es musste an den Schultern angepasst werden. Das kostete sie sehr viel Mühe. Beinahe hätte sie das Hemd weggeschmissen.
29.März 2020
Das Sonntagsfrühstück fand ohne Ei statt. Fred hatte keine Lust darauf. Anna war es auch recht. Fred fragte Anna, ob sie immer noch wütend sei. Wütend sei sie nie gewesen. Nur sehr enttäuscht. Sie verstehe nicht, wieso er unnötige Risiken eingehe. Fred redete von verschiedenen Maßstäben betreffend Vorsichtsmaßnahmen. Anna blieb ruhig, sagte nur, dass sie sich doch bereits auf eine rote Linie geeinigt hätten. Diese fordere Kompromisse von beiden Seiten. Er gehe ja immer noch einkaufen und zwar ohne Schutzhandschuhe, Desinfektionsmittel und Atemmaske. Mit dem Besuch hätte er die rote Linie überschritten. Fred meinte, er müsse sich immer Anna anpassen. Anna dachte, das mache sie doch auch schon die ganze Zeit. Man sprach von Trennung. Aber nicht in Zeiten von Corona. Das war ein Thema für die Zeit danach.
30.März 2020
Anna hatte sich in die Arbeit gestürzt. Für das Kabarettprogramm wollte sie eine neue Nummer bearbeiten. Ausgerüstete mit ihrem Laptop begab sie sich ins Atelier. Dass sie im Moment kein Fahrrad hatte kam ihr nur gelegen. Es blies ein kalter Wind. Im Auto war es gemütlicher. Das Atelier konnte man gut beheizen. Die großen Fenster schafften eine helle, freundliche Atmosphäre. Sie liebte ihr Atelier. Es kam ihr vor wie eine Oase. Sie war ganz für sich, las, übte, arbeitete, aß und schlief. Das letztere machte ihr zurzeit am meistens Freude. Zusammengekauert auf dem alten Ledersofa ihrer Eltern versank sie mit einem Buch in eine andere Welt. Das Aufwachen war jeweils schwer. Es brauchte Kraft und einen starken Espresso.
31.März 2020
Es war der letzte Tag dieses unglückseligen Monats. „Unglückselig“ ist auch so ein seltsames Wort - Unglück und Seele passen doch irgendwie nicht zusammen. Oder bedeutet der Ausdruck einfach, dass die Seele unglücklich ist. Dann würde es direkt ins Schwarze treffen. Anna dachte an das Philosophie Studium. Sie hatte es leider abgebrochen hatte, weil sie sich zu alt und zu wenig schlau fühlte. Das Thema Dualismus hatte sei sehr beschäftigt. Was war denn damit gemeint? Dass der Körper und die Seele zwei verschiedene Substanzen waren? Wobei die Seele als Substanz zu betrachten, traf die Sache auch nicht. Die Seele war doch Geist! Als Kind hatte sie die Vorstellung, dass wenn ein Mensch stirbt - oder auch ein Tier, ihr Hamster zum Beispiel - dann flog die Seele wie ein leichter kleiner weißer Vogel aus dem Körper davon in den Himmel. So stellte sie sich das bei ihrer geliebten Omama vor. Sie starb, als Anna sieben Jahre alt war. Ihr Körper blieb zurück und wurde in ein Erdloch an Seilen hinunter gelassen. Nie mehr wollte Anna so etwas miterleben. Aber sie sah den kleinen weißen Vogel, der gegen den Himmel flog. Er verschwand in den dichten Wolken. Sie konnte damals nur hoffen, dass der Vogel den Himmel auch erreichte. Wieso konnte der Körper nicht auch in den Himmel mit fliegen? Wie damals bei der Heiligen Mutter Gottes Maria? Wieso musste er in der Erde verfaulen und von Regenwürmern aufgefressen werden? Und jetzt in Zeiten des Corona starben so viele Menschen und ihre Leiber wurden verbrannt. Und die Seelen? Flogen sie wirklich in den Himmel? Der war klar und blau, wie ihn Anna noch nie gesehen hatte. Kein einziger Kondensstreifen. Auch die fliegenden Seelen konnte man nicht sehen. Woran sollte man denn noch glauben?
1.April 2020
„Zum Glück bin ich Klavierlehrerin und nicht Ärztin geworden“ dachte Anna, als sie den Artikel über „Unterlassung von Hilfeleistung“ las. Da wird ein achtzigjähriger Mann mit Atemnot ins Spital eingeliefert. Die Beatmungsgeräte sind alle besetzt – Nein, eines ist noch frei! Aber, was wenn jetzt eine dreißigjährige Mutter eingeliefert wird, die auch nur mit künstlicher Beatmung gerettet werden kann? Wenn der Arzt den Achtzigjährigen nicht an das Gerät anschließt, muss die Dreißigjährige nicht warten – Diese Situation trat tatsächlich ein. Zwar handelte es sich um einen Mann und er war erst fünfundzwanzig Jahre alt. Er wurde sofort an das Gerät angeschlossen. Der Achtzigjährige war dem Tod geweiht. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn der Arzt den alten Mann wieder vom Beatmungsgerät hätte abkoppeln müssen um den jungen Mann zu retten. Konnte man den Arzt gerichtlich belangen wegen unterlassener Hilfestellung? Unvorstellbar, welche kriegsähnlichen Zustände unsere Ärzte gerade erleben und bewältigen müssen.
2.April 2020
Fred hatte an seinem Fahrrad die Bremsbeläge ausgewechselt. Er war sehr stolz, dass er das geschafft hatte. Obwohl, beim Fahren sei ein schwaches Schleifgeräusch zu hören. Also stimme etwas doch nicht so ganz. Anna würde das nichts ausmachen. Ihr E-Bike fuhr auch nicht geräuschlos. Aber aus andern Gründen. Man kommt ins Grübeln in Zeiten von Corona, ist auf sich selbst zurück geworfen, wie eine Freundin heute beim chatten sagte. Anna plante mit ihr zusammen das nächste Montags-Musizieren an zwei Klavieren. Wahrscheinlich fällt das auch ins Wasser. Alles fällt ins Wasser und man muss sich andauernd von neuem motivieren um nicht gänzlich zu ertrinken. Der Halt fehlte, der Alltag, die Arbeit, die Menschen, die Familie, alles fehlte!! Der Sinn des Lebens fehlte. Und da sollte noch jemand kommen und sagen, man solle nicht nach dem Sinn suchen im Leben. Es gäbe keinen. Der Sinn ist doch, in einer humanen Gesellschaft zusammen zu leben, seinen Teil zum guten Gelingen beizutragen. Und jetzt war alles blockiert. Wegen diesem kleinen Miststück. Anna sah darin nichts Positives.
3.April 2020
Fred zog seine Fahrradklamotten an, bestehend aus einer alten Langlaufhose mit Loch und einer Windjacke. Dazu den Fahrradhelm, immerhin ein Modell aus diesem Jahrtausend und Sonnenbrille. So setzte er sich auf den Beifahrersitz in Annas Auto, um gemeinsam das genesene Fahrrad aus dem Spital abzuholen. Anna war empört, aber Fred meinte, Sicherheit ginge über alles. Auf dem Weg dorthin gab er Anna Tipps, wann sie schalten, wann sie in den Kreisverkehr einfahren solle und natürlich wusste er auch den kürzesten Weg zur Fahrradwerkstatt.
Immerhin, dem Fahrrad geht es wieder gut. Anna überließ es Fred, er sollte damit Richtung nachhause fahren. Natürlich würde er noch ein paar kleine Umwege machen. Eine vorsintflutliche Landkarte, diese jetzt aber aus diesem Jahrtausend, sollte Fred dabei behilflich sein. Da war Vertrauen gefragt, die Eigenschaft, die in diesen schwierigen Zeiten am nötigsten war. Wie konnte man dieses Gefühl stärken, ohne ständig in der ängstlichen Kontrollhaltung zu verharren, die einem zigmal am Tag von allen Medien eingebläut wurde? Und vor allem, wie konnte man es reparieren, wenn es angeknackst war? Anna war ratlos.
4.April 2020
Anna hatte lange geschlafen. Als sie aufwachte durchströmte ein angenehmer Duft nach Zitrone und Vanille das Haus. Fred hatte einen Kuchen gebacken! Was für ein leckerer Auftakt für ein hoffentlich konfliktfreies Wochenende. Beim Joggen bei strahlendem Sonnenschein traf Anna zuerst keinen Menschen. Aber unzählige Buschwindröschen streckten ihr Köpfchen neugierig und auch etwas fragend in die Höhe. Was war denn los? Wir werden nicht beachtet? Wir haben uns aus der kalten Erde empor gekämpft um die Menschen zu erfreuen? Und jetzt sind keine da. Es kreuzten dann doch noch einige Leute Annas Weg, ein Paar mit zwei Hunden an der Leine, eine Dame in Annas Alter, die genauso gemütlich trabte wie Anna, aber durch ihre etwas untersetzte Gestalt viel älter wirkte, ein seriös wirkender Herr mittleren Alters, der spazierte und dem die AirPods aus den Ohren hervor lugten, was eigentlich gar nicht zu ihm passte. Er grüßte Anna sehr freundlich. Vielleicht sollte sie sich doch noch solche Bluetooth-Kopfhörer leisten. Mal schauen. Wenn die Verschwörungstheorien betreffend weltweitem Finanz-Crash stimmten, würde es wohl nicht mehr dazu kommen. Etwas anderes, das Anna bei ihrem morgendlichen Run zu denken gab, war der Abfall, der überall auf dem Waldboden herum lag. Ein besonders erschreckendes Ausmaß nahm diese Unart bei einer lauschigen Bank an. Unzählige Plastikbecher, Verpackungen und Papier verunstalteten den Ort, der eigentlich zum Verweilen einlud. Was hatten sich diese Menschen dabei gedacht?
5.April 2020
Die Idee kam von Fred. Anna war zuerst gar nicht begeistert davon. Er meinte, man könne doch eine gute Tat tun, indem man den Müll im Wald wegräumt. Ja, wieso eigentlich nicht. Vorausgesetzt, man war ausgerüstet mit Gummihandschuhen. Atemschutzmasken würden wohl nicht nötig sein. Die Plastikbecher und der übrige Unrat lagen seit Tagen an verschiedenen Orten und waren, von der Sonne gebleicht, sicher nicht mehr ansteckend. Fred steckte einen gelben Sack ein, Anna die Gummihandschuhe und schon hatte der Spaziergang einen Sinn und war nicht nur sonntägliches Flanieren. Kann es sein, dass diese Krise uns zu sozialeren Menschen erzieht, die nicht nur an ihren eigenen Profit denken, sondern sich auch mal für das Gemeinwohl einsetzen? Aber was passiert, wenn morgen die Stelle im Wald wieder verunreinigt ist? Gehen wir ein zweites Mal dorthin, oder ist uns das dann schon lästig? Würden wir vielleicht uns als Erzieher aufspielen, die vermutlich jungen Leute beim nächsten Treffen belehren oder, noch viel schlimmer, denunzieren? Das konnte sich Anna nicht vorstellen. Aber war sie sich da wirklich so sicher?
6.April 2020
„Heiligt der Zweck die Mittel?“ Anna schaute zu Fred, der sich soeben das zweite Bier eingegossen hatte. „Du meinst, ich trinke zu viel“, fragte er etwas verunsichert. „Nein, darum geht es jetzt nicht. In Israel ist eine App im Umlauf die meldet wenn eine Person, die sich eigentlich in Quarantäne befindet, mal schnell zum Kiosk um die Ecke geht.“ „Das kommt bei uns auch bald. Ist nur eine Frage von Tagen.“ „Aber dann müsste man doch alle Menschen testen! Das geht ja nie und nimmer.“ „Also wird diese App nicht wirklich was bringen. Nur die Leute noch mehr einschüchtern“, sagte Fred. Jetzt brauchte Anna auch ein Bier. Sie öffnete den Kühlschrank und stellte fest, dass sich da kein gekühltes mehr befand. Fred sollte eigentlich immer für Nachschub sorgen, wenn er sich bediente. Er war hingegen der Meinung, man sollte sich einen größeren Kühlschrank anschaffen. Anna fand, das sei nicht nachhaltig. Und schon war wieder eine unangenehme Situation entstanden. Sie stritten sich oft in Zeiten von Corona. Und meistens wegen nebensächlichen Dingen.“ Ich hole dir ein Bier aus dem Keller“, sagte Fred. Auch er hatte heute anscheinend das Bedürfnis nach Harmonie, nicht nach Streit.
7.April 20
Anna begutachtete die neueste Kreation aus ihrem Nähatelier im Spiegel. Dieses „Osterkleid“ war wirklich außergewöhnlich. Der obere Teil bestand aus einem blumigen, hellen, der untere aus einem uni orangeroten Stoff. Das Kleid war knöchellang. Fred meinte, es sähe aus, als würde Anna eine Schürze tragen, da sie zwei Bahnen des blumigen Stoffes in das untere unifarbene Rockteil eingenäht hatte. Die Idee war, eine Verbindung zwischen den beiden Teilen zu schaffen. Die Kreation schien also in Freds Augen nicht besonders gelungen zu sein. Oder wie sollte sich ein knöchellanges Kleid mit einer Schürze verbinden, will man die Zeit nicht mindestens hundert Jahre zurück drehen. Also doch in die Zeit von „Cholera“... Anna würde das Kleid tragen. Egal ob in Zeiten von Cholera, Corona oder sonst was. Sie war froh, wieder einmal etwas fertig gebracht zu haben, das sie in den Händen halten konnte.
8.April 2020
Die gemeinsame Fahrradtour zusammen mit Fred begann ziemlich holprig. Das heisst holprig war eigentlich nur der Waldboden und etwas später der Schotterweg. Er führte über grüne, saftige Wiesen mit blühenden Kirschbäumen und Äckern mit frisch gezogenen Furchen. Solange der Weg eben war, hatte Anna keine Mühe, Fred zu folgen, zumal sie ja mit einem E-Bike ausgestattet war. Seit es in Revision war, fuhr es wie am Schnürchen. Aber wenn sich eine starke Kurve oder eine unverhoffte Steigung zeigte, war Anna ängstlich und stieg lieber ab. Das Anfahren am Berg erwies sich dann als unmöglich egal ob auf Waldboden, Schotter oder sonst was. Das Rad war einfach zu schwer für sie! Und bis der Motor endlich Unterstützung anmeldete, lag Anna schon auf dem Boden. Fred zeigte Verständnis und widerstand auch der Versuchung, Anna zeigen zu wollen, wie man es richtig macht. So wurde die gemeinsame Tour doch noch ein Erfolg. Und diese Landschaft! Einfach ein Traum! Wie heisst der berühmte Satz: Wieso denn in die Ferne schweifen...Er wird wohl seine Richtigkeit nie verlieren. Jetzt erst recht nicht.
9. April 2020
Heute hatte Anna endlich das Buch „Die Gedächtnislosen“ von Geraldine Schwarz zu Ende gelesen. Sie war total begeistert davon. „Wer sich als Europäerin oder Europäer fühlt, muss dieses Buch lesen“, sagte sie zu Fred. „Aber du bist doch Schweizerin“, erwiderte Fred. Er wusste, dass er Anna so ärgern konnte. Schließlich stammte sie aus einer Familie, in der mehrere Nationalitäten sich vereinten. Annas Großmutter mütterlicherseits war Deutsche, der Großvater väterlicherseits Italiener. Sie selber war mit einem Italiener verheiratet und lebte heute mit einem Deutschen zusammen. Sie hasste Grenzen. Mehrere Male in ihrem Leben wohnte Anna jenseits der Grenze der Schweiz, in Frankreich, in Italien, in Deutschland. Zwar betrug die Entfernung zur Schweiz immer nur wenige Kilometer. Anna fand das aufregend und fühlte sich als Europäerin. In Zeiten von Corona schienen sich aber das Bewusstsein und die Konzentration auf die eigene Nation wieder zu verstärken. Die Idee des Miteinanders in einem vereinten Europa entpuppte sich als ethisch moralisches Gedankengefüge, dem der Stresstest der Corona Pandemie große Mühe bereitete. Es gab wieder Grenzen. Was für ein Rückschritt!
10. April 2020
Heute ist Karfreitag. Anna erinnerte sich, wie sie als Kind jeweils Angst davor hatte, an diesem hohen christlichen Feiertag etwas falsch zu machen, zu laut oder nicht traurig genug zu sein. Auf dem Weg zur Karfreitags Liturgie wurde nur geflüstert. In der Kirche trugen der Priester und die Ministranten lila farbige Gewänder . Das Kreuz war ebenfalls in ein lilafarbenes Tuch gehüllt. Der Vikar las aus dem neuen Testament die Leidensgeschichte und Kreuzigung von Jesus vor. Anna waren besonders die von Nägeln durchbohrten Hände von Jesus in Erinnerung geblieben. Manchmal wurden auch die Choräle wie „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ gesungen. Sie waren sehr schön und sehr traurig. Alle Menschen in der Kirche litten mit. Es gab eine große Verbundenheit. Und man wusste, in zwei Tagen würde alles vorüber sein. Dann würde Jesus wieder auferstehen. An diesem Glauben gab es nichts zu rütteln. Jetzt in Zeiten von Corona ist der Glaube für Anna in weite Ferne gerückt. Den Menschen war es verboten, in den Kirchen gemeinsam zu beten. Nicht einmal in Kriegszeiten gab es ein solches Verbot.
11. April 2020
Die Schwere von Karfreitag hatte sich noch nicht verzogen. Anna hatte sehr schlecht geschlafen. Um 2.30 Uhr stand sie auf und bereitete sich einen Kräutertee zu. Die Baldriantropfen, die sie in die Tasse tröpfelte zogen ihren Kater Nero an. Er ist wild nach Baldrian. So bald er ihn riecht, sucht er ganz aufgeregt danach. So war es auch gestern Nacht. Er sprang auf die Anrichte und wälzte sich im Spülbecken. Anna rettete sich mit der Tasse in ihr Schlafzimmer. Nero blieb verwirrt zurück. Wahrscheinlich fand auch er keine Ruhe mehr. Wenigstens konnte er durch die Nacht streifen und sich mit fremden Katzen treffen. Als Fred am Vormittag vom Markteinkauf nachhause kam brachte er zwei Blumenbouquets mit. In einem geschmackvollen Geflecht, das wie ein Nest aussah, befand sich jeweils ein blühende Pflanze. Anna wusste leider den Namen nicht. Aber sie durfte sich eine aussuchen. Sie entschied sich für die mit den tiefroten Blüten. Sie ist wunderschön! Die mit den gelben Blüten brachten sie später zu den Nachbarn. Diese hatten ihre Mutter zu Besuch, welche Geburtstag feierte. Gemeinsam sang man „For she’s a jolly good fellow“. Anna begleitete auf der Ukulele. In D-Dur. Andere Akkorde konnte sie noch nicht. Ja es gäbe noch so viel lernen. Und die Zeit dafür wäre ja jetzt ideal!
16.April 2020
Der aufmerksame Leser wird bemerken, dass Anna während einiger Tage kein Tagebuch geführt hatte. Es gab nicht Neues zu berichten. Man steht mit Corona auf, hat Kopfschmerzen und geht mit Corona ins Bett, wenn man Glück hat ohne Kopfschmerzen. Und Anna hatte sich vorgenommen, das Tagebuchschreiben nicht als Pflichtübung verkommen zu lassen. Aber heute bemerkte sie zwei neue Dinge, erstens ihr rechtes Knie war unangenehm angeschwollen und zweitens, sie hatte Lust auf Honig. Als Kind war ihr Honig ein Graus. Wenn das offene Glas auf dem Frühstückstisch stand, schob sie es weit von sich weg. Nicht nur der Geruch, nein schon die Konsistenz verursachte ihr Ekel. Beim Zuschauen, wie die Masse vom Löffel auf das unschuldige Butterbrot floss, musste sie fliehen. Heute war es umgekehrt. Anna achtete sorgfältig darauf, dass der Löffel, den sie ins Honigglas tünchte peinlich sauber war. Anschließend genoss sie es, wenn der Honig an einem feinen Faden in ihr Jogurt floss. Und sie liebte es, beim Essen des Jogurts Reste der klebrigen Substanz vom Löffel zu lecken. Ja, das Älterwerden offenbarte so manche Überraschung. Das geschwollene Knie war allerdings keine schöne. Google sagte: Kniegelenkerguss. Ursache entweder Überlastung, Sportverletzung oder Arthrose. Das zweite kam wohl bei Anna nicht in Frage. Sie würde die Sache weiter beobachten.
22.April 2020
Angebunden an einem Baum war es, das neue Fahrrad. Da hätte es schlimmstenfalls die Nacht verbringen müssen, hätte Fred Anna telefonisch nicht erreicht. Er hatte Glück. Ausnahmsweise war ihr Handy nicht auf lautlos gestellt und Anna empfing seinen Hilferuf bequem auf dem Sofa im Atelier liegend, vertieft in eine Hörbiographie über Ludwig van Beethoven. Ihren Unwillen über die Störung ließ sie sich nicht anmerken. Sie begab sich wieder nachhause, holte Freds Auto und fuhr mit Werkzeug ausgerüstet Richtung Schwörstadt. Das Ziel war Dossenbach. Nicht zu verwechseln mit Dosenbach. Dort wartete Fred auf seine Helferin in der Not. Den Platten hätte er auf spitzen Steinen eingefangen. Das konnte sich Anna gut vorstellen. Sie hatte Fred auch schon auf seinen Abenteuertouren durch Wald und Wiesen auf ihrem Vinora-Rad begleitet. Seither war ihr rechtes Knie geschwollen. Anna war zwar traurig darüber, dass sich keine Besserung zeigte, nicht aber darüber, dass sie auf solche Fahrradausflüge für eine geraume Zeit verzichten musste. Nachdem sie dank Googlemaps den Unglücksort gefunden hatte, löste Fred mit einigen Handgriffen das lädierte Rad vom Rest des Vehikels. Zu zweit hoben sie das Fahrrad, oder was davon übrig geblieben war in den Combi. Für die Hilfe in der Not spendierte Fred ein Nachtessen, das allerdings Anna zubereitete. Aber der noch größere Dank war, dass Fred, so erleichtert über Annas Bereitschaft, ihm aus der Patsche zu helfen am Telefon ein „ich liebe dich“ entwich. Anna war so überrascht über das Geständnis, dass sie es versäumte, diese seltene Liebeserklärung schriftlich zu verlangen. Ob er sich wohl noch daran erinnerte?
24.April 2020
Heute war der zweite Tag, an dem Kater Nero diese dämliche Halskrause tragen musste. Trotz Corona war Anna mit ihrem Liebling beim Tierarzt. Dieser hatte an peinlichsterer Stelle eine Art Geschwür festgestellt. Damit er nicht daran lecken konnte, wurde ihm eben diese Halskrause verpasst. Und natürlich eine gehörige Dosis Antibiotika. Das ärgerte und verunsicherte den stolzen Kater unheimlich. Ständig stieß er irgendwo an, an einem Möbelstück, an den Treppenstufen, am Fressnapf. Bis am nächsten Montag muss er das Ding tragen und das Schlimmste: er darf nicht raus ins Freie wegen der Strangulierungsgefahr. Also auch Nero in Quarantäne. Damit er trotzdem ein bisschen an die frische Luft käme, versuchte es Anna heute mit einer Leine. Sie hoffte, ihr Liebling würde so im Garten sein Geschäft erledigen. Der Spaziergang schien ihm zu gefallen. Er ließ sich auch brav führen und fraß ein wenig Gras. Nur das Geschäft vergaß er dabei. Zum Glück erledigte er es später in der Kiste. Aber ohne sich danach putzen zu können, kann diese Erleichterung zur Qual werden. Anna half mit Feuchttüchlein nach. Corona verletzt sogar die Würde bei Tieren, dachte sie.
25.April 2020
Zoom! Jetzt wird alles besser. Dank der digitalen Welt kommunizierte Anna mit ihren Eltern in der Schweiz. Ein lieber Nachbar machte es möglich. Etwas ungewöhnlich war es schon, die beiden so zu sehen, nah aber doch so weit weg. Sie saßen auf der Bank im Garten, sorgfältig darauf achtend, dass sie nicht gleichzeitig sprachen, was eine absolute Ausnahme darstellt. Als Anna ihre Mutter dazu ermutigte, etwas näher zu kommen, um sie besser verstehen zu können, sagte sie, das sei aber doch gefährlich! Auch mit ihrem Klavierfreund wollte Anna endlich wieder einmal von Face to Face kommunizieren, wenn schon das gemeinsame Musizieren nicht möglich war. Und den Cappuccino wollte sie auch mit ihm zusammen trinken. Nur wie machten sie das mit den Gipfeli? Er brachte sie jeweils mit in die gemeinsame Musizierstunde. Scheiß-Corona!
28.April 2020
Wenn das Corona Virus Fake wäre, hätte sie nichts dagegen. Aber über Fake AirPod Pro konnte sich Anna nun wirklich nichtfreuen. Dabei hatte es Fred so gut gemeint. Er wollte ihr eine Freude machen und sich selber auch, indem er auf Annas Wunsch einging und gleichzeitig Apple eins auswischte. So ein Klon wäre sicher nicht viel schlechter als das Original, aber etwa fünf Mal günstiger. Anna wollte aber die beste Qualität der Bluetooth Kopfhörer und nicht in erster Linie ein Status Gerät. Wie kam sie nun aus dieser konfliktbeladenen Situation wieder heraus? Erst einmal klaren Kopf behalten, nicht nachts um halb zwölf noch eine Diskussion über Werte, Moral und Ethik beginnen. Diese Themen eignen sich eher fürs Frühstücksgespräch. Nachdem sie zusammen mit Fred den Film „Der Teufel trägt Prada“ über Amazon Prime reingezogen hatten und einige Gläser Rotwein die Stimmung vernebelt hatten, machte Anna den Vorschlag, sich schlafen zu legen. Bei Tageslicht würde sie sich dann mit dem Einrichten des Gerätes beschäftigen, zumal sie die chinesischen Schriftzeichen bei gedämpftem Licht schlecht entziffern konnte.
29.April 2020
Endlich wieder in die Schweiz fahren, was für ein Glück! Auch wenn der Grund dafür ihr geschwollenes Knie war. Immerhin verschaffte ihr dieses Knie ein Attest des Hausarztes zur Überquerung der Grenze. Das war dann wirklich kein Problem. Ausgerüstet mit dem Papier, dem Ausweis und einem Korb voll frischem Gemüse, Brot, Erdbeeren und andern Köstlichkeiten aus dem lokalen Bauernladen passierte sie die Grenze. In Basel angekommen fand sie ohne Probleme einen Parkplatz am Rheinufer und spazierte durch die ruhige Basler Innenstadt. Ein etwas mulmiges Gefühl stellte sich dann schon ein, als sie bemerkte, dass mehr Polizisten als zivile Personen unterwegs waren. Die Läden waren fast alle geschlossen. Leider. Wie gerne hätte sie sich wieder einmal ein Lümpli gekauft, oder ein Buch. Aber ein geöffnetes Geschäft mit Dessous oder Schreibwaren weckten bei Anna keine Kauflust. Nach dem Eintreten in die Praxis des Hausarztes musste sie erst einmal hinter einer Sicherheitslinie stehen bleiben und sich die Hände desinfizieren. Dann bekam sie den Fiebermesser ins Ohr gesteckt und eine Maske verpasst. Jetzt durfte sich Anna in den Wartebereich zu setzen. Bald darauf erschien der Arzt in voller Montur. Anna konnte ein Lachen nicht unterdrücken, zumal sie ihren Arzt seit Primarschulzeiten kannte. „Was ist denn mit dir passiert“? entfuhr es ihr. Er erklärte, dass sich das Bundesamt für Gesundheit am ersten Tag der Praxisöffnung nach den Hygienemaßnahmen erkundigte und er von sich in Schutzmontur ein Foto an diese Stelle schicken musste. Seither bewegte er sich mit Klarsichthelm und Mundschutz. Er wies Anna wurde darauf hin, dass sie ihren Mundschutz verkehrt herum trug. Der feine Draht sollte dazu dienen, den oberen Rand der Maske an die Nase anzupassen. Anna tat es und so begab man sich ins Untersuchungszimmer. Hier unterhielt man sich in erster Linie über Corona und nicht über den Grund von Annas Kommen. Anna stellte Fragen nach Impfstoff, Klassenlager, gemeinsamem Musizieren. Die Antworten des Arztes waren sachlich, aber emotional engagiert. Sie mochte ihren Arzt. Vorsicht sei das oberste Gesetz, meinte er und auch das Knie würde wieder gut werden. Na Gott sei Dank!
30.April 2020
Gott straft sofort. Dass Anna nach dem Arztbesuch ihre Eltern besucht hatte, ohne jemanden davon zu unterrichten, belastete sie im Nachhinein sehr. War sie zu unvorsichtig gewesen? Hätte sie sich wenigstens an ihr Vorhaben, das Elternhaus nicht zu betreten halten sollen, obwohl ihr Vater sie aufforderte, herein zu kommen? Und dann nahm sie auch noch die Einladung zum Kaffeetrinken an – alles natürlich mit gebührendem Abstand und mit Mundschutz. Aber der Gang zur Toilette – war das nicht eindeutig eine Überschreitung der roten Linie? Sie, die von ihrem Fred große Vorsicht verlangte, verhielt sich derart unbedacht?
9.Mai 2020
Annas Tagebuch war zum Wochenbuch mutiert. Ihre Schreiblust hielt sich in Grenzen. Zum Glück hatte der Besuch bei den betagten Eltern keine negativen Folgen. Annas Sorgen verblassten langsam. Aber auch ihr Gefühl für die Wirklichkeit schien sich zu verändern. Da Fred die Einkäufe machte, kam Anna nur wenig mit der Außenwelt in Kontakt. Sie verbrachte ihr Leben im Atelier am Flügel oder mit einem Buch auf dem Sofa. Etwas Hausarbeit, Kochen am Abend und ab und zu ein wenig Putzen oder Filme am Fernsehen schauen waren Beschäftigungen die ihr Gefühl für eine reale Gefahr außerhalb der eigenen vier Wände nicht gerade verstärkten. Falls sie sich doch einmal auf die Straße wagte, begegnete sie Menschen mit Masken. Sie sahen aus, als kämen sie aus einer andern Welt. In den öffentlichen Medien wiederholten sich die Meldungen über die aktuelle Corona-Lage. Manchmal widersprachen sich die Wissenschaftler und Experten. Anna zog sich immer mehr zurück. Sie fühlte sich, als würde sie sich langsam auflösen.
14.Mai 2020
Es war kein Jubelfest gestern sondern eine kleine, herzliche Geburtstagsfeier. Annas Mutter feierte ihren Neunzigsten! So wie sie es sich eigentlich gewünscht hatte. Nur nicht zu viel Aufhebens! Aber erst Corona machte es möglich - in diesem Falle eher unmöglich, dass ein großes Fest mit der ganzen Verwandtschaft gefeiert wurde. Anwesend waren nur Anna und ihre Schwester und natürlich ihr Papa. Es gab Coq au vin, Kartoffelstock, Erdbeeren mit Sahne und Gugelhupf zum Kaffee. Blumen, Sekt, Geburtstagswünsche am Telefon, über FaceTime und per Post. Und dann das virtuelle Ständchen auf dem iPad, ein kleines musikalisches Familienprojekt, dass zwar an Perfektion noch zu wünschen übrig ließ, aber unübertroffen spontan und herzlich daherkam.
Auch Anna war nicht mehr die Jüngste. Eigentlich gehörte sie schon zu den jungen Alten und fühlte sich auch je nach Stimmung mehr alt als jung. Aber ob sie noch so würde strahlen können in dreißig Jahren, wie es ihre Mutter gestern getan tat?
15.Mai 2020
System-Relevant! Was für ein Wort! Das seien die Grenzgänger. Relevant bedeutet wichtig. Wieso kann man dann nicht sagen, Grenzgänger seien wichtig für die Betreuung der Kranken und Pflegebedürftigen in der Schweiz? Wieso werden sie und die Personen, die sie dringend brauchen zur Sache degradiert? Relevant und System.
Und dann noch das: Fricker hat Konkurs gemacht. Und damit stirbt für Anna ein wichtiger Teil ihrer Kindheit. Am schulfreien Mittwochnachmittag ging sie jeweils mit ihrer Mutter in die Stadt. Das bedeutete Sonntagsröcklein anziehen und mit dem Dreiertram zum Bankverein fahren. Dann in der Freien Straße alle Geschäfte abklappern bis runter zum Markplatz. Manchmal ging man sogar in den Globus und wenn Anna Glück hatte, kriegte sie das neueste Globibuch. Aber bis dorthin war es ein weiter Weg. Annas Mutter war als gelernte Schneiderin vor allem am Stoffkaufen interessiert. Sie wühlte im Pfauen und Knopf auf den Tischen mit den Sonderangeboten. Selten wurde ein Stück Stoff vom Ballen gekauft. Das war viel zu teuer. Und für Anna bedeutete das sorgfältige Auswählen der Stoffe warten, warten, warten. Außer wenn es zum Schuhe kaufen ging. Da war eben der Fricker in der Gerbergasse die beste und wahrscheinlich auch einzige Adresse. Die Auswahl war begrenzt, die Qualität gut. Heute wären Anna und ihre Mutter total überfordert mit dem großen Angebot an Schuhgeschäfen. Oder geschieht gerade jetzt in Zeiten von Corona eine Rückkehr zu „weniger ist mehr“? Aber wieso musste es gerade Fricker treffen und nicht Dosenbach oder einen anderen Billig-Import-Laden?
2.Juni 2020
„Chick lit“ - Anna würde sich glücklich schätzen, wenn sie wenigstens das hinkriegen würde! Aber nein, sie schrieb langweilige Tagebücher. Dabei will niemand etwas Langweiliges lesen, das hatte schon Marcel Reich Ranicky gesagt. Aber wie sollte sie es hinkriegen, dass ihre Geschichten spannend wurden? Phantasieren, übertreiben, wie früher als kleines Schulmädchen, als sie jeweils am Montagvormittag in der Erzählstunde schamlos zusammenlog, was sie angeblich am Wochenende erlebt hatte? Sie wurde dank dieser Begabung immer wieder von der ganzen Klasse ermutigt, über ihre Erlebnisse zu berichten. Dass sie am darauffolgenden Samstag zur Beichte gehen musste, um ihre Sünde zu gestehen - achtes Gebot: Lügen - daran hatte sie sich gewöhnt. Und das würde ja heute wegfallen.
16. Juni 2020
Das ist jetzt keine Lüge und auch keine Wunschphantasie: Die Grenzen sind wieder offen! Das Leben kehrt zurück, die Menschen freuen sich über die wiedergewonnene Freiheit. Der Verkehr nimmt zu, die Umsätze steigen, die Depressionen verschwinden, man kann sich wieder konsumieren und sich verwöhnen. Will man es den Menschen verübeln?
Auch Anna zog es heute früh in die Stadt. Eine Salz - und Pfeffermühle wollte sie kaufen. Ästhetisch ansprechend mussten sie sein, mit gutem Mahlwerk. Schließlich waren die lebenswichtigen Geräte für ihre Patentochter gedacht. Anna wurde fündig in einem WMF - Geschäft. Sie ließ sich das Geschenk hübsch einpacken. Die neue Wohnung würden sie und Fred am Samstag kennenlernen. Sie waren zum Pizza-Abend eingeladen, eine Tradition, die sich bis jetzt immer bei Anna abgespielt hatte. Aber die Dinge ändern sich, Kinder werden erwachsen, Erwachsene werden älter...
Einen lang gehegten Wunsch hatte sich Anna selber erfüllt. Er ist acht Kilo schwer, rot und hat vierunddreißig Tasten und zweiundsiebzig Bässe. Richtig, ein Akkordeon! Ein kleines, ziemlich unscheinbares Geschäft in Schopfheim ist der Wirkungsort eines „Spinners“, wie er sich selber nennt. Er baut eigene Instrumente, ist ein leidenschaftlicher Musikant und hatte ein gutes Gespür dafür, was Anna suchte. Auf einem Leihinstrument war sie jetzt fleißig am Üben, hatte den ersten Band des Akkordeonlehrgangs bereits durchgespielt und freute sich darauf, bald ihr eigenes Instrument abholen zu können.
17.Juni 2020
Die zweite Akkordeonstunde hatte stattgefunden. Annas Lehrer staunte über ihre Neugier und versuchte seinen Ärger darüber, dass Anna alle Stücke nur oberflächlich durchgespielt hatte, zu verbergen. Er meinte nur, so mache sie keine Fortschritte. Weniger sei mehr. Sie müsse lernen, den Balg bewusst und exakt zu bedienen und wenige Bassverbindungen oft zu wiederholen, damit sie sich automatisierten. Anna wollte aber schnell vorwärts kommen! Ihren Perfektionismus ließ sie dabei gerne links liegen. Aber wo blieb eigentlich ihre Geduld? Welche Seiten entdeckte sie plötzlich an sich in der Rolle der Schülerin? Es war spannend!
27.Juni 2020
Annas Corona-Tagebucheintragungen werden immer spärlicher. Obwohl auch sie wusste, dass die Gefahr, an dem Virus zu erkranken, noch überhaupt nicht gebannt war. Skandale in Fleischfabriken, Massendemonstrationen, wilde Partyszenen, ließen nichts Gutes ahnen. Aber wie groß war auch Annas Sehnen nach Normalität, nach Unbeschwertheit und Umarmungen. Oder würde das Virus dies für immer unmöglich machen? Die freundschaftlichen und familiären Treffen für immer und ewig mit einem Schleier des Misstrauens überschatten? Würden „molekularbiologische Testungen“ – Bad.Zeitung – künftig zur Tagesordnung gehören? Der Mensch ist ein Meister in Anpassung. Er würde auch das hinkriegen. Auf Kosten der Menschlichkeit. KI lässt grüßen.
Der Handschuh
25. November 2016
Nach der Vorlesung über Tierethik fahre ich in der Tram zur Grenze. Ich bin müde. Die schmale Gestalt neben mir erhebt sich. Langer Mantel, wehendes Haar, anmutig. Beim Aussteigen fällt ein Handschuh auf den Boden. Ich will ihr zurufen: „Ihr Handschuh!“, - tue es aber nicht. Irgendetwas hält mich zurück.
Der Handschuh liegt auf dem Teil der Tram, der sich in den Kurven dreht. Er scheint sich zu bewegen. Eine Illusion. Die Tram bewegt sich, nicht der Handschuh. Er liegt still und einsam. Ihm fehlt sein Kumpel. Der ist noch bei der Frau und wärmt ihre eine Hand. Welche? Ich gucke genau hin. Auf dem Tramboden liegt der linke. Dunkelblau. Aus Leder. Leder sollte man nicht mehr tragen. Ich habe auch Lederhandschuhe. Trage sie auch, obwohl ich Tierethik studiere. Aber ich kaufe keine neuen. Ich trage die alten aus.
Der Handschuh tut mir leid. Allein gelassen! Auf dem Boden der Tram. Der Daumen ist nicht zu sehen. Bauchlage. Sollte ich ihn aufheben? Und auf den leeren Sitz legen? Zu spät. Eine Frau setzt sich darauf. Sie gibt dem Handschuh mit dem Fuß einen Stoß. Er bewegt sich nach vorne. Jetzt hat sie Platz für ihre Einkaufstaschen. Unverschämte Person. Kickt den Handschuh einfach weg.
Ja gut, der Handschuh ist nicht empfindungsfähig. Er hat keine Rechte, keine negativen und schon gar keine positiven. Man kann ihn einfach wegkicken. Oder hat man etwa indirekte Pflichten einem Handschuh gegenüber? Sollte ich ihn zum Fundbüro bringen, damit die Besitzerin zu ihrem Recht kommt? Aber wo finde ich das Fundbüro? Und ist es nicht sowieso geschlossen, wie die Poststelle? Sicher gibt es ein virtuelles Fundbüro im Internet.
Bei der nächsten Haltestelle entdeckt eine Dame den Handschuh bei Aussteigen. Die erste, die von ihm Notiz nimmt. Sie fragt die Frau, die den Handschuh weg gekickt hatte, ob es ihrer sei. Diese lächelt. Nein. Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so grausam zu ihm war?
Wenn der Handschuh Glück hat, bleibt er unversehrt bis zur Endstation liegen. Dann werde ich ihn zum Tramführer bringen. Wenigstens das kann ich für ihn tun. An der Endstation gehe ich nach vorne zur Führerkabine. Ich klopfe an die Glaswand. Der Tramführer lächelt mich an und öffnet das Fenster. Ich übergebe ihm den Handschuh. Er bedankt sich. Ein gut aussehender Tramführer! Ich steige aus. Für mich ist die Welt wieder in Ordnung. Ich hoffe, für den Handschuh auch.
Ich bin eine Fledermaus
23. Mai 2015
...Es schien hektisch zu und her zu gehen. Ein angenehmer Essensgeruch durchströmte das kleine Hüsli. Anna blieb ungerührt, die Beine zur "Kerze" in die Höhe gestemmt. Den Kopfstand schaffte sie leider nicht, den Handstand noch weniger. Sie befürchtete die Einrichtung zu gefährden, sich die Knochen anzuschlagen oder das ganze Büchergestell umzuschmeißen. Ihr Arbeitszimmer war klein, mit Dachschrägen. Das vereinfachte das Experiment. Der Raum glich einem Dachboden - mit weniger Staub - etwas weniger. Gewöhnlich fiel das Licht durch die beiden Dachfenster. Die Jalousien fehlten. Zum Glück besaß Anna noch die schwarzen Tücher, die beim Ausstatten der Theaterbühne an der Schule stets gute Dienste geleistet hatten. Damit hatte sie die beiden Dachfenster verdunkelt und die Ränder des Stoffes mit Tesa -Krepp an der Wand festgeklebt.
"Essen ist fertig"!! Diesmal klang Freds Stimme ungeduldig. Anna versuchte ihre Arme nach beiden Seiten weit auszustrecken. Ihre Beine gerieten ohne Stütze ins Schwanken. Sie schaffte es mit größter Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten. Aber da fehlte doch etwas! Richtig die weiten Ärmel. Kürzlich hatte sie sich, trotz heftiger Proteste ihrer beiden Schwestern, einen Mantel gekauft, der weit geschnitten und erst noch schwarz war. Er wäre genau das richtige Kleidungsstück für das Experiment. Anne rollte langsam ihren Rücken ab, kam in aufrechter Haltung zu sitzen und überlegte, wo der Mantel sein könnte. Sie musste nicht lange nachdenken, der Mantel hing am Kleiderständer. Sie zog ihn an, hievte ihre Beine wieder in die Höhe, streckte die Arme zur Seite und - sah nichts mehr. Der Stoff des Mantels bedeckte Kopf und Oberkörper. Umso besser. Sie brauchte nichts zu sehen, hören tat sie immer noch und riechen auch. Fred schien eine Tortilla zubereitet zu haben. Aber eigentlich interessierte sich Anna im Moment nur für das eine: würde sie es schaffen, in umgekehrter Körperhaltung, mit Hilfe der schwarzen Verkleidung, wedelnden Armen und ohne etwas zu sehen sich so zu fühlen wie dieses Wesen? Oder blieb es bei der Vorstellung, wie es wohl wäre, so ein Wesen zu sein? Subjektives oder objektives Bewusstsein, das war hier die Frage. Der Philosoph Thomas Nagel sagt, es sei unmöglich zu wissen, wie es wäre, ein dem Menschen so wesensfremdes Geschöpf zu sein. Mit Empathie würde man es nicht wissen können, weil diese auf einem subjektiven Bewusstsein beruhe. Auch Phantasie – damit war Anna gesegnet – bringe nichts. Diese beruhe auf unsern menschlichen Erfahrungen und sei deshalb beschränkt. Na, wir werden sehen. Noch war Anna erst am Anfang ihres Experiments. Der wichtigste Teil stand noch bevor. "Himmel noch mal, bist du eigentlich taub?" Fred stieß die Tür zu Annas Zimmer wütend auf. "Ich habe schon zwei..." Er verstummte beim Anblick von Anna. "Sag mal spinnst du?" rief er außer sich. "Ich bin nicht taub, im Gegenteil und spinnen tu ich auch nicht. Aber ich sehe nichts,“ antwortete Anna. "Würdest Du mir bitte erklären, was dieses Szenario bedeuten soll?" Fred schien sichtlich verwirrt darüber zu sein, Anna in der ungewohnten Stellung mit hochgestreckten Beinen und bedeckt vom wallenden Stoff des Mantels zu sehen. Das Wedeln mit den Armen hatte sie inzwischen eingestellt. Die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren war zu groß. "Man sagt nicht `Szenario`. Das heisst `Situation`. Hat mein Tutor gesagt“. „Mir passt aber diese `Situation`nicht. Das Essen wartet! Sag mir endlich, was diese Turnübung zu bedeuten hat!" "Ich turne nicht, ich studiere." Anna ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es kam jetzt darauf an, sich voll zu konzentrieren. Sie setzte zu einem hohen Pfeifton an. In der unbequemen Stellung kein Kinderspiel! "Was soll denn dieses Pfeifen? Machst du dich über mich lustig?" Fred ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Ich versuche gerade, dich zu lokalisieren." "Wie bitte?" "Da ich nichts sehe, tu ich das mit Hilfe der Echolotortung." "Ich sitze hier auf dem Stuhl, während die Tortilla anbrennt," jammerte Fred. "Ich mag keine Tortilla." Anna spürte, dass sie auf dem richtigen Weg war. Ihr Bewusstsein schien sich zu verändern. "Du magst keine Tortilla! Wieso denn das jetzt plötzlich?" Freds Stimme klang hilflos. "Ich ziehe Insekten vor." Ohne dass Anna einen weiteren hochfrequentierten Ton ausstoßen musste, nahm sie wahr, wie Fred vom Stuhl aufsprang. "Würdest du jetzt bitte mit dem Quatsch aufhören!?" Anna begann erneut mit den Armen zu wedeln. Der Stoff des Mantels bewegte sich auf und ab. Die Füße gegen die Decke gestreckt piepste sie mit hoher Stimme: "Ich bin eine Fledermaus!" Wutschnaubend verließ Fred das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Durch den Luftstrom veranlasst bewegte sich der Stoff um Annas Arme, ihre Beine wiegten leicht in der Luft. Es war schön, eine Fledermaus zu sein. Hm - aber die Tortilla roch auch sehr gut...
Kaffee mit Platon
24. Februar 2015
„Ich bin nicht einverstanden.“ Fred knallte seine Tasse auf den Tisch. Sie überstand den Aufprall. Anna schaute verärgert von ihrer Zeitung auf. „Du kannst deine Meinung auch besonnen zum besten geben. Es wäre besser für unser Inventar.“ „Aber du hörst mir ja nicht zu!“ „Dann finde kluge Argumente und ich werde ganz Ohr sein.“ „Kluge Argumente? Willst du damit sagen, dass ich bis jetzt nur Blödsinn geredet habe?“ „ Ja.“ Diesmal überlebte die Tasse den Aufprall nicht. Zum Glück war sie wenigstens leer.
„Jetzt haben wir eine weniger. Kannst du dich nicht beherrschen?“ „Nein. Ich bin eben so. Das ist meine Natur.“ „Dann kann ich mit dir nicht diskutieren. Diese Sprache verstehe ich nicht.“ „Was soll das heissen?“ „Es soll heissen, dass du lernen sollst, dich zu beherrschen.“ „Ich habe keine Lust, mich von dir belehren zu lassen.“ „Du sollst dich selber belehren.“ „Wieso?“ „Weil wir sonst bald keine Tassen mehr haben.“
Jetzt flog der Unterteller quer durch die Küche. Ja was soll auch eine Unterteller ohne Tasse. „Geht es dir jetzt besser?“ „Nein! Gleich fliegt der ganze Tisch in den Garten!“ „Ja, damit kannst du deine Muskelkraft unter Beweis stellen.“ „Ich habe eine starke Natur!“ „Eben. Der Tisch hätte keine Chance. Aber was hättest du davon?“ „Ich fühlte mich frei!“ „Wieso frei?“ „Weil ich meinen Gefühlen freien Lauf lasse. Ich bin eben nicht so eingeengt wie du!“ „Der Tisch passt aber nicht durchs Fenster. Es ist zu eng.“ „Und wie der passt!“ Fred stemmt den Tisch hoch. Annas Tasse samt Unterteller, Milchkanne und Zuckerdose glitten zu Boden.
„Noch weniger Geschirr. Toll diese Freiheit. Ein Scherbenhaufen.“ „Das kommt nur davon, weil du mir nicht zuhörst.“ „Worüber haben wir denn gesprochen?“ „Über:
1. Das Recht des Stärkeren.“„Aber auch über: 2. Selbstbeherrschung. Platon, Klassische Texte der Philosophie. Ein Lesebuch.“
Lörrach, 20.2.2015 ©p-dur